Löwenherz. Im Auftrag des Königs
wusste Rat: »Die Querstange da oben am Mast, an der das Segel hängt, ist beweglich. Wir müssen es nur immer so drehen, dass der Wind hineinfährt.«
»Und wenn er von der falschen Seite kommt?«
»Dazu haben wir das Steuerruder. Ich weiß inzwischen, wie man den Kurs hält. Ich hab dem Steuermann und den Matrosen genau zugesehen.«
»Immerhin einen ganzen Tag lang«, sagte Johnny.
»Wenn du es besser kannst …«
Edith stieg zum Heckkastell hoch und spähte achteraus. Das Beiboot war nur noch ein kleiner heller Fleck auf dem dunklen Meer. Der Wind, der ebenfalls direkt von achtern kam, fuhr in ihren Mantel und lockerte ihre Haarnadeln. Ihr langes kastanienfarbenes Haar flatterte. Der Wind war salzig. Über der verschwommenen Küstenlinie türmten sich schiefergraue Wolken, die immer näher heranzurücken schienen. Das Segel knallte, die Taue sangen und das Schiff knarrte. Sie spürte, wie der Rumpf erzitterte, wenn die Wellen dagegenschlugen.
»Wir fliegen über die Wellen!«, rief Robert begeistert. »Wenn es so weitergeht, sind wir in ein paar Stunden im Heiligen Land!«
»Du hast keine Ahnung, wie groß das Meer ist«, sagte Edith, die immerhin eine vage Vorstellung von der Länge des Wegs hatte. Denn als sie Brion O’Heney zu Hause über das Heilige Land ausgefragt hatte, hatte er ihr Land- und Seekarten gezeigt.
»Dann dauert es halt bis morgen«, sagte Robert. »Auf jeden Fall werden wir so schnell sein wie noch kein Mensch vor uns!« Er lehnte sich gegen das noch immer festgebundene Steuerruder, das sie auf Kurs hielt.
Die LÖWENHERZ tauchte in ein Wellental und schwang sich auf den Kamm der nächsten Welle.
»Juchhhuuu!«, schrie Robert und zerrte lachend am Griff des Ruders. »Wir sind die Könige der Welt!«
Von der Küste rollten Unwetterwolken heran.
12
S ire Guy war überzeugt, dass er tot war. Niemand, der durch eine derartige Hölle gegangen war, konnte sie überlebt haben. Der Wind hatte ohrenbetäubend geheult, die Wellen waren so hoch gewesen wie Berge, das Wasser eiskalt und die Gischt wie Faustschläge ins Gesicht. Wo oben und wo unten gewesen war, war nur manchmal festzustellen; die Welt hatte aus Wasser bestanden, das in den Augen brannte, in die Wangen biss, im Mund zum Erbrechen reizte und die Hände erstarren ließ. Die Kleidung war triefend nass gewesen und so kalt wie ein Totenhemd. Er hatte allen Stolz fahren lassen und sich den Anweisungen von Schiffsmeister Hugo unterworfen, sich mal auf dieser, mal auf jener Seite aus dem Boot gelehnt, um es zu stabilisieren, sich zusammen mit den anderen auf seinen Boden geworfen, wenn es über die Wellenkämme schoss, und mit bloßen Händen Wasser geschöpft, geschöpft, geschöpft …
Sein einziger Trost war gewesen, dass die LÖWENHERZ mit den verfluchten Kindern darauf in diesem Unwetter keine Chance hatte und dass in den Augenblicken, in denen er, Sire Guy de Gisbourne, um sein Leben kämpfte, die drei Bälger schon ertrunken im brodelnden Meer trieben. Der Trost war schal geworden, als sie ihr einziges Ruder verloren hatten.
Dann hatte er irgendwann festgestellt, dass die See sich zu einer langen, langsamen Dünung beruhigt hatte, der Wind still geworden war und dass sich über ihm ein Sternenhimmel gewölbt hatte, den er mit solcher Klarheit noch nie gesehen hatte, und dass er sich nicht hatte erinnern können, wann und ob das Unwetter aufgehört hatte zu toben. Deshalb musste er tot sein.
Dieser Glaube verfestigte sich, als er ein Schiff lautlos an das Beiboot der LÖWENHERZ herangleiten sah. Das Schiff schien diese Bezeichnung kaum zu verdienen. Es sah aus, als sei es aus den Teilen unterschiedlicher Wasserfahrzeuge zusammengesetzt. Deshalb konnte es nur einem gehören: Charon, dem Fährmann, der die Toten über den Fluss Styx in die Unterwelt brachte. Dies war heidnischer Aberglaube, aber Sire Guy hatte es im Grunde seines Herzens schon immer mehr mit den Heiden gehalten, die eine Schandtat mit zwei weiteren vergalten. In christlicher Nächstenliebe auch noch die andere Wange hinzuhalten, war Sir Guys Sache nicht.
Eine Gestalt mit Kapuze beugte sich über die Bordwand des Schiffes. Sire Guy fühlte sich bemüßigt, ihr zuzuwinken.
»Hallo, Fährmann«, flüsterte er.
Das unsichtbare Gesicht unter der Kapuze wandte sich ihm zu. »Sire Guy?«
Sire Guy stierte die Erscheinung an. Mit einem Mal war ihm klar, dass er die Kapuze, dass er den Habit kannte. Das war nicht die Robe des Fährmanns in die Totenwelt, das war die
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