Löwenherz. Im Auftrag des Königs
schien es Edith, dass sie aus Versehen genau das Richtige getan hatten. Das zusätzliche Gewicht im Kiel hatte verhindert, dass der Wind die LÖWENHERZ über das hoch aufragende Bug- und Heckkastell hatte packen und umdrücken können.
Edith rappelte sich auf und stolperte zur Reling. Sie war bis auf die Haut durchnässt, die Kleidung hing ihr schwer am Körper. Ihre Zähne klapperten in der Kälte des Herbstmorgens, aber die Sonne ließ auf einen warmen Tag hoffen. Wo hatte sie der Wind hingeweht?
Zu ihrem Entsetzen sah sie nirgendwo mehr eine Küstenlinie. Sie trieben in einem grünen, sich langsam hebenden und senkenden Meer und nirgendwo war Land in Sicht. Doch sie waren nicht allein. In Rufweite trieb ein weiteres Schiff. Es hatte keine Masten mehr, das Bugkastell hing über dem Bug, vom Heckkastell fehlte ein ganzes Stück. Überall waren durcheinandergeratene Taue zu sehen, und der Schiffskörper lag so schräg, dass nur ein schlimmes Leck der Grund dafür sein konnte. Ein Dutzend Männer starrte zur LÖWENHERZ herüber, während ein paar weitere gerade versuchten, ihr Beiboot aus Tauen und Trümmerstücken zu befreien, um es zu Wasser zu lassen und herüberzurudern.
14
N ach einer Weile fanden sie heraus, wie sie sich mit der Besatzung des fremden Schiffes verständigen konnten: auf Normannisch. Die Fremden sprachen mit einem seltsamen Akzent, aber flüssig. Sie waren zu dritt herübergekommen und sichtbar überrascht gewesen, als Robert und Johnny über der Reling aufgetaucht waren und mit gespannten Bogen auf sie gezielt hatten.
»Wenn Ihr uns nicht an Bord lasst, sind wir verloren«, sagte der fremde Schiffsmeister. »Die KÖNIGIN JEANNE kann nicht mehr repariert werden.«
»Wer garantiert uns, dass Ihr nicht versucht uns zu überwältigen, sobald alle von Euch an Bord sind?«
»Ich gebe mein Ehrenwort als Seemann.«
»Haha«, schnaubte Edith. »Wir haben gelernt, was ein Ehrenwort auf See wert ist.«
Der fremde Schiffsmeister kniff die Lippen zusammen. Er war es sichtlich nicht gewohnt, mit einer Frau zu verhandeln und noch viel weniger mit einem jungen Mädchen, das ihm zu widersprechen wagte.
Edith hörte Johnny murmeln: »Warum geben wir uns überhaupt mit denen ab? Lassen wir sie doch absaufen! Wir sind ihnen nichts schuldig.«
»Wir allein können die LÖWENHERZ nicht flottmachen«, murmelte Robert zurück. »Wir wissen nicht mal, wo wir sind. Wir brauchen sie. Lass Edith nur machen.«
»Wieso spreche ich eigentlich mit Euch, Mädchen?«, fragte der Schiffsmeister. »Da, wo ich herkomme, tragen junge Dinger, die so vorlaut sind, gelbe Bänder im Haar.«
»Ihr sprecht mit mir«, sagte Edith, »weil meine beiden Gefährten gerade auf Euer Herz zielen.« Die Beleidigung – der fremde Schiffsmeister hatte sie soeben mit einer Hure verglichen – steckte sie weg, ohne mit der Wimper zu zucken.
Er verzog das Gesicht. Edith konnte sehen, wie Wut in ihm aufstieg. »Ihr könnt uns nicht alle auf einmal …«, begann er.
»Wo Ihr herkommt…«, wiederholte Edith. »Und wo ist das?«
»Wir sind sizilianische Normannen.« Der Schiffsmeister zögerte einen winzigen Augenblick. »Und wir sind ehrliche Händler.«
»Und was habt Ihr um diese Zeit hier draußen auf dem Meer verloren?«
»Wir transportieren Waren, was sonst?«
»Die Saison ist vorüber, habe ich gehört.«
Der fremde Schiffsmeister und Edith maßen einander mit Blicken. Edith war klar: Die Sizilianer konnten nur Piraten sein. Sie hatten damit gerechnet, dass Schiffe, die so spät im Jahr und trotz der gefährlichen Herbststürme noch unterwegs waren, entweder wichtige Passagiere oder eine besonders wertvolle Ladung an Bord hatten. Deshalb hatten sie das Risiko auf sich genommen, in See zu stechen. Das Unwetter hatte das Piratenschiff übel zugerichtet. Wenn sie diese Leute an Bord ließen, war das genauso schlimm, als hätten sie sich Sire Guy und Hugo ergeben.
Und der Sizilianer hatte Recht: Sie konnten die Männer nicht alle auf einmal in Schach halten. Schon gar nicht, da es sich um kampferprobte Seeräuber handelte. Selbst wenn sie jetzt den Schiffsmeister erschössen, würden sie es mit seiner Mannschaft zu tun bekommen. Und den Mann kaltblütig zu töten, nur um zu verhindern, dass später vielleicht Unheil von ihm ausging … Dann erkannte Edith, dass die Lösung direkt vor ihren Augen lag.
»Wie heißt Euer Schiff noch mal?«, fragte Edith.
» KÖNIGIN JEANNE .«
»Wen interessiert denn, wie der Kahn heißt?«,
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