Loewenmutter
Blatt, das zu Boden fiel, konnte ich hören. Jetzt erst merkte ich, dass es nieselte. Die Straße glitzerte nass.
Ausgesetzt an der Bushaltestelle. Im Schein der Laterne spiegelte sich mein Gesicht im Plexiglas: Wer bin ich? 31 Jahre alt, drei Kinder, vor elf Jahren nach Hamburg gekommen, nichts außer den eigenen vier Wänden gesehen, kaum ein Wort Deutsch gelernt, fremd geblieben. Aber ich war frei. So frei, wie ich nie gewesen war. Ohne Kleider, ohne Geld und ohne Worte.
Der Spielplatz, den ich immer geliebt hatte, erschien mir wie eine öde Wüste, und die Kastanienbäume, die mir vertraut wie Freunde waren, wuchsen zu schwarzen Riesen. Ich zitterte. Aber da war niemand, der mich in eine Decke wickelte und einer Mutter auf den Bauch legte. Ich war ein Notfall, aber keiner wusste von mir, kein Mensch würde mich vermissen und nach mir suchen. Jetzt musste ich für mich alleine sorgen.
Ob die Kinder an mich gedacht hatten, als sie an diesem Abend eingeschlafen sind? Ich sehe sie vor mir, wie sie unter diesen bunten Acryldecken, die neuerdings zu Dutzenden auf dem Markt zu kaufen sind, liegen, alle drei aneinandergekuschelt. Amal mit ihrem Plüschhasen zwischen den beiden Jungs. Den Hasen dicht an die Nase gepresst, weil er den Geruch von allem, was sie in ihrem jungen Leben schon erlebt hat, verströmt.
Das Geräusch eines Autos, das durch Wasserpfützen fuhr, schreckte mich auf. Ob jetzt noch ein Bus fährt? Wenn einer käme, wohin sollte ich fahren? Oder sollte ich sitzen bleiben? Und wenn jemand vorbeikäme und mich fragte, ob ich Hilfe brauche, was sage ich? Ich habe Angst, unendliche Angst. Wenn ich jetzt verschwinden würde, kein Mensch würde es bemerken. Lieber nicht mehr leben als so ein Leben. Aber ich lebte doch für meine Kinder! Plötzlich riss mich ein dringendes Bedürfnis aus meiner Starre. Ich musste mal.
Karimah! Natürlich. Sie wohnte nicht weit von hier, 200 Meter vielleicht. Ihre roten Haare standen in alle Richtungen vom Kopf, und die dunklen Augen wurden noch größer als sonst, als sie erkannte, wer mitten in der Nacht vor ihr stand. Ich hatte sie aus dem Schlaf geklingelt. »Wo kommst du denn her?«, fragte sie. Das letzte Mal hatten wir uns im Frühjahr gesehen, als ich auf der Suche nach meinen Kindern nach Tunesien aufgebrochen war. »Ich dachte, du bist in Tunesien bei den Kindern. Was ist passiert?« – »Allah sei Dank, bin ich froh, dass du da bist«, stammelte ich. »Darf ich auf deine Toilette?« – »Komm rein. Wie siehst du aus? Bist ja ganz blau gefroren!« Ich schlüpfte hinein, hier war es warm, die Wohnung war mir vertraut, hier kannte ich mich aus. So heimelig, sogar die Gardinen vor den Fenstern.
Karimahs Kinder schliefen, der Mann auch. »Komm her, wärm dich auf bei uns«, sagte sie. Ob sie wusste, wie gut mir das tat? Ohne viel zu fragen, legte sie mir eine Decke über die Schultern und kochte starken Kaffee, den sie mit vielen Löffeln Zucker süßte. Ich streckte meine Finger über der warmen Herdplatte aus und fing an zu erzählen. Von der Scheidung und von den Kindern, die bei Abdullahs Bruder wohnten. Ich erzählte, wie ich sie gleich nach meiner Ankunft in Tunesien besucht hatte. »Seither nicht mehr.« Weil ich Angst hatte, dass Abdullah sie sonst woanders verstecken würde. »In Tunesien konnte ich nichts mehr tun, deshalb bin ich hierhergekommen. Ich will nach einer Arbeit suchen und später die Kinder zu mir holen.« – »Mutig von dir. Wolltest du nicht zurück zu deinen Eltern?« – »Nein, dort konnte ich nicht länger bleiben. Wozu? Auch wenn ich noch nicht weiß wie, aber ich will für das Sorgerecht kämpfen.«
Ich erzählte Karimah von meinem Besuch bei Abdullah und wie ich ihn und die Algerierin auf meinen Kleidern hatte sitzenlassen. »Seine Augen hätte ich sehen wollen«, lachte meine Freundin plötzlich. Ein befreiendes Lachen wie damals auf dem Spielplatz, als wir über unsere blauen Flecke lachten. Für einen kurzen Moment stimmte ich mit ein. Ich hatte zwar nicht erreicht, was ich wollte, mich aber doch tapfer geschlagen. Wir setzten uns an den Küchentisch, auf dem eine Stoffdecke mit Sonnenblumen lag. Schön, dachte ich und war auf einmal unendlich müde. »Es ist schrecklich, allein auf der Straße zu stehen und nicht zu wissen wohin.« – »Du Arme, und jetzt bist du bei uns gelandet. Bleib eine Weile. Du kannst hier schlafen.« Karimah war ein Engel.
Am nächsten Morgen wachte ich mit Kopfschmerzen auf. Die Kinder waren schon
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