Loewenmutter
in der Schule. Karimah hatte schon mit ihrem Mann gesprochen und machte mir den Vorschlag, ein paar Tage zu bleiben. Es würde sich dann schon irgendetwas ergeben. Das hoffte ich auch. Aber als ich nach dem Frühstück die Gardine des Küchenfensters zur Seite schob und all die bekannten Wege sah, füllten sich meine Augen mit Tränen. Ich war da und meine Kinder nicht. Ich öffnete das Fenster und sog die Luft ein. Da durchfuhr es mich auf einmal kalt. Mir war, als würde ich die Stimmen meiner Lieben vom nahen Spielplatz hören. Ganz deutlich. Aber das kann doch nicht sein! Auch Karimahs Kinder hörte ich, lachend mit meinen zusammen, wie ich sie früher oft gehört hatte. Unverwechselbar das zarte Kichern von Amal und das schelmische Hohoho von Jasin. Ich beugte mich hinaus, es war kühl, und der Wind blies mir ins Gesicht. Da sah ich einen Jungen in einem rotweißen Fußball-Shirt um die Ecke biegen und hatte plötzlich Amin vor Augen. Und wie aus dem Nichts tauchten neben ihm Amal und Jasin auf. Alle drei ein Eis in der Hand. Capri-Sonne, was sie so gern aßen.
Phantasiere ich? Bin ich verrückt? Oder hat Abdullah die Kinder hergeholt? Das halt ich nicht aus. Ich sehe sie doch ganz genau: dort auf der Straße, Jasin mit dem Roller. Ich will den dreien etwas zurufen: Halt, woher kommt ihr? Aber da sind sie schon wieder verschwunden, wie in Luft aufgelöst. Alles pure Einbildung.
Meine Kopfschmerzen wurden heftiger. Und als gegen Mittag Karimahs Kinder in die Wohnung stürmten und nach Jasin, Amin und Amal fragten, fiel es mir schwer zu antworten. »Warum kommt Jasin nicht zurück? Will er nicht mehr nach Deutschland kommen? Will er nicht seine Mama sehen?« – »Ja, doch, natürlich!« Ihre Fragen trafen mich wie Nadelstiche. Schlimmer noch als die Bilder. Das hielt ich nicht aus, ich hätte erst gar nicht nach Harburg kommen sollen. Die Kinder sind nicht hier, ich muss das akzeptieren. Muss weg von hier, wo mich alles an meine Lieben erinnert. Muss weg, wenn ich nicht verrückt werden will. In ein anderes Stadtviertel, das ich nicht kenne.
Karimah wollte mir helfen und telefonierte herum, ich weiß nicht mit wem alles. Es dauerte ein paar Tage. Ich litt, hatte Kopfschmerzen, und sobald ich auf die Straße ging, hörte ich Stimmen. Auf Schritt und Tritt verfolgten sie mich. Dann traf ich die Menschen in den Geschäften, die ich vom Sehen kannte, und mich überkam dieses Allen-geht-es-besser-als-mir-Gefühl. Unerträglich. Doch eines Vormittags hielt ich die Adresse einer Frauenberatungsstelle in der Hand. Karimah hatte sie mir über eine Freundin besorgt. Dort würde man mir weiterhelfen. »Kommst du mit?«, bat ich sie. Ich sprach kaum ein Wort Deutsch, konnte nicht einen Buchstaben lesen und traute mich nicht, alleine Bus oder U-Bahn zu fahren. »Du wirst jetzt lernen müssen, selbständig zu sein«, sagte sie. Ich wusste nicht, wie recht sie damit hatte. Noch am selben Tag fing ich damit an.
Ein schöner Tag im Frühherbst, an dem das Licht milchig ist und die Spinnennetze in den Büschen wie silberne Spitze glitzern. Die Frau in der städtischen Beratungsstelle machte nicht viel Aufhebens, als wir kamen. Sie wollte nur das Allernotwendigste wissen. Meine Freundin sprach für mich, doch wenn sie eine Frage direkt an mich richtete, versuchte ich zu antworten. Zum ersten Mal musste ich mich auf Deutsch verständigen. Nein, mein Exmann würde mich nicht mehr aufnehmen, versuchte ich zu erklären, obwohl ich hier unter seiner Adresse gemeldet war. Ja, ich hatte Angst vor seinen Schlägen. Ja, die Kinder lebten entführt beim Onkel in Tunesien. Ja, ich wolle um sie und meinen Unterhalt kämpfen. Ja, ich wolle unbedingt arbeiten und Geld verdienen. »Wenn Sie damit einverstanden sind, melde ich Sie im Frauenhaus an«, sagte die Beraterin, »ein schönes Haus am Alsterkanal. Dort können Sie in Ruhe überlegen, wie es weitergehen soll.«
Frauenhaus? Das kannte ich, vor Jahren hatte ich in einem solchen Haus schon ein paar Stunden verbracht und war dann doch wieder zu Abdullah zurückgekehrt. Vielleicht war jetzt der richtige Zeitpunkt dafür. Ich nickte. Während die Sozialarbeiterin telefonierte und nebenbei etwas auf einen Zettel notierte, verabschiedete sich Karimah.
»Geheim«, hat die Frau gesagt, als sie mir das Papier, auf dem die Adresse des Frauenhauses stand, in die Hand drückte. Das hieß, dass mich keiner in diesem Haus aufspüren konnte. Gut so. Minuten später fand ich mich auf der Straße
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