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Loewenmutter

Loewenmutter

Titel: Loewenmutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esma Abdelhamid
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wieder. In den Händen ein Fahrplan der U-Bahn und ein Stadtplan. Ich war allein und konnte gehen, wohin ich wollte. Ein Gefühl, das mich verunsicherte. Auch wenn ich es mir so oft gewünscht hatte, als ich in Hamburg-Harburg hinter der Gardine gestanden und auf die Straße gesehen hatte. Jetzt war es, als sei eine Wand verschwunden. Vor der ich Ewigkeiten gewartet hatte. Ein neues Leben lag vor mir, mein eigenes Leben, jeder Schritt auf dem Weg dorthin ein Wagnis.
    Wäre ich ihn gegangen, wenn ich gewusst hätte, wie schwer er werden würde? Ohne Deutsch zu sprechen, ohne lesen und schreiben zu können? Wenn ich gewusst hätte, wie hilflos ich oft dastehen würde, wenn ich nicht nach dem Weg fragen konnte, wie ängstlich, wenn ich vorgegebenen Mustern folgen sollte, wie kraftaufwändig es sein würde, mir meine Defizite selbst einzugestehen und vor anderen zu verbergen? Ich ließ den Stadtplan zusammengefaltet, er nützte mir nichts. Mir war nicht einmal klar, wie herum ich ihn halten musste, geschweige denn, dass ich ihn hätte lesen können. Noch nie habe ich einen Stadtplan oder eine Landkarte gelesen.
    Ich stand vor dem Hauptbahnhof. Okay, das hatte man mir gesagt. »Hier nehme ich die U2 Richtung Barmbek«, sagte ich laut vor mich hin. »Hauptbahnhof – Mundsburg«, auf dem Plan mit der U-Bahn hatte die Sozialarbeiterin die betreffende Bahn rot markiert. Nicht schwer. Vier Stationen nur bis Mundsburg, nicht einmal umsteigen. Trotzdem war mir schlecht vor Aufregung. Dauernd zog ich den Zettel mit der Adresse aus meiner Tasche und steckte ihn wieder ein. Ich fragte mich, was ich tun sollte, wenn ich das Haus nicht fand? Mich an die Polizei wenden? Meine Freundin anrufen? Ein paar Mark hatte ich noch.
    Ich umklammerte meine Plastiktüte mit beiden Händen und sprach Leute an. Fragte sie nach dem Bahnsteig, einmal, zweimal, mindestens dreimal, in meinem holprigen Deutsch. Schilder konnte ich nicht lesen. Immer wieder vergewisserte ich mich, dass die U-Bahn auch wirklich nach Mundsburg fährt und auch wirklich dort anhält – vielen Dank, sagte ich. Die Leute dachten wahrscheinlich, ich käme vom Mond. Ich schwitzte vor Anspannung, der Schweiß stand mir auf der Stirn, als ich endlich in der U-Bahn stand. In der richtigen. Mich zu setzen traute ich mich nicht. Damit ich auch ja rechtzeitig wieder aussteigen konnte. Meine Hände zitterten. Ich verschränkte die Finger und drückte sie, bis die Knöchel weiß wurden. Eins, zwei, drei, vier Haltestellen. Dann stieg ich aus.
    An eine riesige Kreuzung erinnere ich mich, vier Straßen, die in vier verschiedene Richtungen abgehen. Natürlich stand dort nirgends der Name der Straße, in dem sich das Frauenhaus befand. Ich kam mir vor wie auf einem Blindflug. »Alsterkanal, wo Alsterkanal?«, sprach ich willkürlich ein paar Leute an, die vor einer Fußgängerampel warteten. Sie zuckten mit den Achseln. So durfte ich nicht fragen, das brachte gar nichts. Beim zweiten Versuch zeigte ich auf den Stadtplan in meiner Hand. Das war schon besser. Die Sozialarbeiterin hatte mein Ziel mit einem roten Kreis markiert. Sogleich vertiefte sich ein älterer Herr mit Brille in den Plan und versuchte mir zu erklären: die Straße auf der gegenüberliegenden Seite der Kreuzung hinunter, dann die zweite rechts. »Ganz einfach«, sagte er und wünschte mir Glück. Ich sprang los, die Ampel war rot. »Halt, stopp«, hörte ich es hinter mir rufen, aber da war ich schon auf der anderen Seite.
    Dort blieb ich stehen, als hätte mich das »Stopp« erst jetzt eingeholt. Erneut schaute ich mich nach jemandem um, den ich fragen und der mir helfen könnte. Vier- oder fünfmal bat ich um Hilfe, das letzte Mal 50 Meter vor dem Haus. Ich war völlig auf mein Ziel fixiert und sah nicht das Altersheim in der Nachbarschaft, auch nicht den Kindergarten mit den tobenden Kindern im Garten, ich hatte keine Augen für die alten Platanen, die den Schotterweg entlang des Alsterkanals säumten, und hörte nicht die Elstern, wie sie auf den umliegenden Hausdächern krakeelten. Jeder, den ich nach dem Weg fragte, wies mit der Hand in die gleiche Richtung und sagte: »Immer geradeaus, ist nicht mehr weit.« Ich brauchte diese permanente Bestätigung. Wie eine Fledermaus, die sich an ihrem Echo orientiert.
    Aber als ich durch ein grünes, mächtiges Eisentor in einer Mauer trat und mich in einem verwilderten Garten wiederfand, war ich stolz und erleichtert: das Frauenhaus. Ich war allein einen Weg gegangen und

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