Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Loewenmutter

Loewenmutter

Titel: Loewenmutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esma Abdelhamid
Vom Netzwerk:
brauchte sich keiner zu genieren. Ich war verwundert, Anja schien es zu merken. »Die Frauen hier haben viel durchgemacht und nichts mehr zu verbergen«, sagte sie. »Aber nun zeige ich dir erst mal das Haus und stelle dir ein paar Mitbewohnerinnen vor, diejenigen, die zur Zeit da sind, das ändert sich dauernd. Trotzdem sind wir so etwas wie eine große Wohngemeinschaft. Mit viel Spielraum, aber auch mit klaren Regeln.«
    Die Führung durchs Haus war dann sehr lustig. Eine Villa mit großem Wintergarten und Terrasse, alles ebenerdig auf einer Etage. Wie die Häuser in Amerika. So jedenfalls stellte ich mir amerikanische Häuser vor. Es gab acht oder neun Ein- und Zweibettzimmer, auf den Fensterbänken standen jede Menge Pflanzen. Die Wände hatten die Bewohnerinnen mit Spiegeln und Postern dekoriert: Pferde, Sänger, Schauspieler – aber die kannte ich damals noch nicht. Ich kannte überhaupt keine Filme und war noch nie in einem Konzert gewesen. Auch nie in einer Ausstellung oder im Theater, nicht einmal in einer Disco.
    Es war eine komplett neue Welt, in die ich hier hineingeraten war. Anja zeigte mir auch das Zimmer, in dem ich wohnen sollte. Die Möbel zusammengewürfelt, unterschiedliche Bettgestelle, zwei bunt bemalte Stühle, ein Tisch in der Mitte des Raums und ein Wandschrank, der dick mit weißer Farbe überstrichen war, sodass ich ihn nur wegen seines silbernen Schlosses von der Wand unterscheiden konnte. Mein »Gepäck« fiel mir plötzlich ein. Alles was ich hatte, passte in eine kleine Tasche, einen Schrank brauchte ich bestimmt nicht dafür.
    »Was ist?«, fragte Anja, die meinen befremdeten Blick wahrgenommen hatte. »Keine Kleider«, sagte ich, »keine Schuhe.« – »Och«, sagte sie. »Das kommt dir schlimm vor, ich weiß. Aber deswegen brauchst du dich nicht zu genieren. Viele Frauen kommen hier nur mit den Kleidern an, die sie am Leib tragen. Wir haben ein Lager mit Kleiderspenden.« – »Woher?« – »Von Leuten, die mehr haben als du. Such dir nachher ein paar Klamotten aus. Mit kleinen Hilfsarbeiten kannst du dir hier im Haus ein paar Mark verdienen. Außerdem gibt’s zweimal pro Jahr Kleidergeld von der Stadt. Damit wirst du dir bald selbständig neue Kleider kaufen können.« Ich hatte kaum ein Drittel von dem, was sie sagte, verstanden. Aber ich merkte, dass ich hier gut aufgehoben war. In diesem Moment kam meine Mitbewohnerin herein.
    Steffi, sehr dünn, mit weit auseinanderstehenden Augen, wie eine Katze. Ich fand sie hübsch: »Hi«, sagte sie und fragte, ob ich Deutsch könne. »Wenig.« – »Dann bring ich es dir bei. Ich habe Deutsch studiert.« Sie sei schon zwei Monate im Frauenhaus, die Polizei habe sie auf der Straße wegen Drogenkonsum aufgegriffen. Jetzt wolle sie hier mit einer Ersatztherapie beginnen. Sie schien nett, auch wenn ich Angst vor Drogen hatte, seit ich meinen Mann betrunken erlebt habe. »Wenn du wirklich hierbleiben und ein neues Leben beginnen möchtest, werden wir dir helfen, so gut wir können«, sagte Anja im Weitergehen. »Natürlich will ich«, entgegnete ich. – »Bist du dir sicher? Viele Frauen kommen und gehen nach zwei oder drei Tagen wieder. Obwohl sie von ihren Männern schlecht behandelt werden, gehen sie zurück zu ihnen.« Wie ich ein paar Jahre vorher auch, aber das sagte ich Anja nicht. Noch nicht. Stattdessen fragte ich: »Warum zurück?« – »Weil die Frauen nichts anderes kennen als dieses unselbständige Leben bei ihren Männern. Sie haben Angst vor etwas Neuem.« – »Aber ich – geschieden. Mann – ist weg.« – »Das spielt keine Rolle, wenn du wüsstest, wie groß die Abhängigkeiten der Frauen sind.«
    Ich verstand sie nicht richtig. Aber sie erzählte einfach weiter, und ich versuchte, mir alles zu merken. Wie ein Kind, das begierig ist zu lernen. »Wenn du hierbleibst, dann unterstützen wir dich«, wiederholte sie. »Wir sind vier Kolleginnen. Mit jeder von uns kannst du sprechen und erzählen, was dir auf dem Herzen liegt, oder sagen, was du brauchst. Aber es muss von dir ausgehen. Wir sind da, um dir zu helfen, damit du wieder auf die Füße kommst. Wir drängen dich nicht, du musst selbst wissen, was du willst.« – »Bleiben – ich will bleiben!«, sagte ich. Dieses Mal war ich mir ganz sicher, dass das Frauenhaus kein »vorübergehend« für mich war, sondern ein Zuhause. Nicht wie das erste Mal, als ich auf der Türschwelle wieder kehrtgemacht hatte.
    Trotzdem war ich in den folgenden Tagen traurig,

Weitere Kostenlose Bücher