Loewenmutter
Staubsaugen oder Wäsche waschen, alles nach einem Plan, in den wir uns eintrugen. Das brachte Regelmäßigkeit in den Alltag und Gewohnheiten, die mir guttaten. Ohne Stress und Druck. Man ließ mir Zeit, mich einzuleben, und diese Zeit habe ich auch gebraucht.
Wir waren Frauen mit den unterschiedlichsten Schicksalen, aber alle wurden wir damit nicht alleine fertig. Viele von uns waren aggressiv und hatten jede Menge Gewalterfahrungen hinter sich, manche waren alkohol- und drogenabhängig. Auch alte Frauen suchten das Frauenhaus auf. Die Armen, ihre Kinder haben sie verstoßen, und sie hatten niemanden, der sich um sie kümmerte. Eine alte Frau, die keine Zähne mehr hatte, auch keine künstlichen, sie war ein wenig verrückt. Sie ging jeden Morgen nach dem Frühstück aus dem Haus, keiner wusste wohin, aber pünktlich zum Mittagessen war sie wieder da. Zum Essen fanden sich alle ein. So war die Regel des Hauses. Eine schöne Regel, die mein Gefühl von der großen Familie, die zusammen um den Tisch sitzt, verstärkte. Das Essen wurde von außerhalb angeliefert, sobald es kam, war auch die Oma nicht mehr weit. Immer, wenn dann eine von uns den Tisch deckte, riefen wir: »Gleich kommt die Oma.« Wir hätten sie vermisst, wenn sie weggeblieben wäre.
Eine andere alte Frau saß den ganzen Tag auf einem Stuhl vor dem Radio im Wohnzimmer und strickte. Sie trug immer dieselbe rotgrüne Jacke aus grober Wolle, und ihre langen grauen Haare hatte sie zu einem Knoten zusammengesteckt, wie ich es noch nie gesehen hatte. Wir sprachen nicht miteinander, aber viele Stunden saß ich neben ihr, sah ihr stumm zu und hörte mit ihr Radio: Nachrichten, Diskussionen, Musik, den ganzen Tag über. Zuerst war es nur ein Hintergrundgeräusch für meine Gedanken, aber täglich verstand ich mehr. Schon nach einer Woche bekam ich die wichtigsten Nachrichten mit. Ich lernte viel über Deutschland in dieser Zeit. Und ich lernte sprechen.
Die Arme der alten Frau waren spindeldürr und übersät mit braunen Flecken. Ihre Hände, über deren Sehnen und Knochen sich eine durchsichtige, weiße Haut spannte, sahen aus wie Vogelkrallen. Unablässig und im gleichmäßigen Takt bewegten sich die Finger, so als ob sie mit den Stricknadeln tanzten. Diese Bewegungen erinnerten mich an die Zeit in Tunesien, nachdem ich die Schule abgebrochen hatte. Ich hatte auch gestrickt. Wie kam es, dass ich jetzt erst wieder daran dachte?
Eines Tages war der Vater mit dem Vorschlag gekommen, meine jüngere Schwester und mich an einer Haushaltsschule anzumelden. Haushalt sei das Einzige, was wir Mädchen können müssten. Ich war 15 und froh, ein paar Stunden am Tag aus dem Haus zu kommen. Wir waren ungefähr ein Dutzend gleichaltriger Mädchen. Wir kochten, spülten, wuschen und strickten, und es machte mir Spaß. Vor allem das Stricken. Ich war flink und schnell, eine der Besten. Hätte ich nie gedacht, aber hier wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass ich doch etwas kann.
Als die Schule zu Ende war, bettelte ich meinen Vater an, mir eine Strickmaschine zu besorgen. Um professionell zu stricken. Pullover und Jacken, alles, was gebraucht wurde. Warum nicht? Mein Vater ließ sich darauf ein, er kaufte mir so ein Gerät, und ich strickte tatsächlich bis zu meiner Hochzeit Kleidung, die ich sogar verkaufen konnte. Echte Auftragsarbeit, das Geld, das ich damit verdiente, kassierte der Vater. Ich hätte es auch gar nicht haben wollen. Wichtig für mich war, dass ich etwas zum Leben meiner Familie beitrug.
»Ich – auch«, sagte ich schüchtern zu der alten Frau. »Besorg dir Wolle, und wir stricken zusammen«, meinte sie. Aber genau davor hatte ich Angst. »Kann nicht – nicht mehr.« – »Stricken verlernt man doch nicht. Komm probier’s, ich zeige es dir.« – »Nein, nein – später.« Ich traute es mir nicht zu, aber das Gefühl war wieder da. Fast hätte ich es vergessen, dieses Glück und die Befriedigung, die ich damals empfunden hatte.
Über drei Wochen war ich nun schon im Frauenhaus. Meine Weinattacken wurden weniger, und allmählich begann ich mich am Gemeinschaftsleben zu beteiligen. Es war ein grauer Nachmittag, und ich füllte Wäsche in die Waschmaschine. Petra, eine Betreuerin, stand neben mir, weil sie mir zeigen wollte, wie die Maschine funktioniert. »Ich habe noch nie mit einer Waschmaschine gewaschen«, versuchte ich ihr zu erklären, »alles immer mit Hand.« – »Sag, dass das nicht wahr ist.« – »Doch, alle Kinderkleider, meine
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