Loewenmutter
niedergeschlagen, deprimiert. Die Kopfschmerzen wurden wieder stärker. Stundenlang igelte ich mich in meinem Zimmer ein, saß auf meinem Bett und sprach mit kaum jemandem. Auf was ließ ich mich ein? Was stand mir bevor? Ich war jetzt schon erschöpft, obwohl ich den Weg noch lange nicht zu Ende gegangen war. Im Gegenteil, ich hatte gerade erst angefangen. Ich ahnte, dass es schwer werden würde.
Die Tage wurden kürzer, es regnete ständig, und der herbstliche Nebel lullte uns ein, fast den ganzen Tag brannte Licht im Haus. Die Betreuerinnen hatten Geduld mit mir, auch wenn ich nach Tagen noch kaum mehr als ein paar Worte gesagt hatte. Auch nicht im Büro unter vier Augen – ich konnte nicht. Und hatte doch ständig das Gefühl, mich erklären zu müssen. Ich wollte erzählen, warum ich hier bin. Wer oder was mich hierher verschlagen hat, aber ich konnte nicht. Es fehlten mir die Worte und Sätze, meine Gefühle und Gedanken zu beschreiben. Weil ich es nicht gewohnt war, zu sprechen. Am allerwenigsten über mich selbst.
Manchmal ergaben sich die Gespräche zufällig während des Tischabräumens oder des Aufräumens. Dann fing ich an, sprudelte fast hysterisch, stammelte, aber schon nach fünf Minuten weinte ich nur noch. Weil all diese furchtbaren Erinnerungen wieder hochkamen, alles durchlebte ich noch einmal. Schläge, Demütigungen, die Ausweglosigkeit und die Angst um meine Kinder. Die Bilder überwältigten mich.
Weinen, weinen, weinen – wenn ich einmal angefangen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören. Richtige Heulkrämpfe waren das, stundenlang, es schüttelte mich, und keiner konnte mich beruhigen. Meine Zimmernachbarin Steffi versuchte mich zu überreden, mit ihr zu rauchen. Sie wollte mir Tabletten besorgen: »Probier doch mal, es hilft dir bestimmt. Glaub mir, deine Probleme verschwinden wie von selbst, und dein Kummer verfliegt ruckzuck.« Aber ich schüttelte jedes Mal den Kopf, wenn sie fragte, ob sie mir helfen könne. Ich wollte nicht.
Ich zerfloss in Selbstvorwürfen. Warum hatte ich die Kinder nicht beschützen können, wie sich das für eine Mutter gehört? Die Betreuerinnen fürchteten dann, ich könnte mir das Leben nehmen. Das hätte ich auch getan, aber ich lebte für meine Kinder. Um sie kreisten meine Gedanken. Eines Abends stand ein Arzt an meinem Bett. Den ganzen Tag über war ich nicht aufgestanden. Hatte wieder nur geheult und gegrübelt. Wahrscheinlich hatten ihn die Betreuerinnen, die für mich inzwischen zu vertrauten Personen geworden waren, gerufen. Ein älterer Herr, sehr groß und hager, aber mit einer weichen Stimme. Doktor Wiener, er war ein Vatertyp. Er fragte nicht, warum ich weine oder was mir denn fehle. Sondern er hielt einfach meine Hand. »Na, jetzt beruhigen Sie sich, Ihre Kinder brauchen Sie noch«, sagte er immer wieder. Bis ich merkte, dass ich unter seiner warmen Hand tatsächlich ruhiger wurde. »Wenn Sie möchten, dann kommen Sie in meiner Praxis vorbei. Einfach kommen, dann werden wir schon weitersehen … « Ich fühlte mich wie ein Kind, das sich an die Hand der Mutter klammert. Am liebsten hätte ich ihn nicht mehr losgelassen. Ich konnte ihm nicht erklären, warum ich weinte, aber das erwartete er gar nicht.
Von da an ging ich jede Woche zu ihm. Er hatte seine Praxis nicht weit vom Frauenhaus. Ich erzählte ihm von meiner panischen Angst vor meinem Exmann und dem Trauma der Kindesentführung, und er riet mir zu einer Therapie. Doch mir reichte es, erst mal ihm mein Herz ausschütten zu können. »Lernen Sie Deutsch«, sagte er mir immer zum Abschied, »beim Fernsehen oder beim Radiohören – sprechen können macht frei.« Ich lernte tatsächlich. Und je besser ich sprechen und von mir erzählen konnte, desto besser ging es mir.
Am frühen Abend saß ich regelmäßig mit den anderen Frauen vom Haus vor dem Fernseher, und wir sahen die Serie »Gute Zeiten, schlechte Zeiten«. Ich sehe uns heute noch sitzen, die einen auf dem Boden, die anderen auf der Couch, die einen rauchend, die anderen mit einer Teetasse in der Hand. Alle fieberten wir mit den Schauspielern mit, und hinterher diskutierten wir die Probleme der Helden. Am Anfang verstand ich wenig, aber schon nach zwei Wochen konnte ich mitreden.
Ich spürte, dass ich im Frauenhaus geschützt war und trotzdem frei. Eingebunden, aber trotzdem selbständig, fremd und trotzdem vertraut. Frauen, die wie ich keiner geregelten Arbeit nachgingen, arbeiteten im Haus. Abwaschen, Küche aufräumen,
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