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Loewenmutter

Loewenmutter

Titel: Loewenmutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esma Abdelhamid
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mir die Tränen herunterliefen. »Morgen – gut!« – »Nein, morgen ist das Einwohnermeldeamt geschlossen«, antwortete die Betreuerin voller Mitleid. »Aber am Donnerstag, da versuchst du es noch einmal. Lass dich nicht entmutigen. Wird schon klappen.«
    »Keine Schminke heute«, sagte ich mir, als ich zwei Tage später morgens wieder vor dem Spiegel stand. Ich war früh dran, die Erste im Einwohnermeldeamt. Rote, gelbe, grüne, blaue Formulare: Ich betrachtete das Regal an der Wand, das ich übersehen hatte. Woher, bitte schön, sollte ich wissen, welches Formular für mich war? Blaue für meine Söhne, wenn ich sie endlich nach Deutschland holen würde, das rote für die Tochter und für mich das grüne? Ich schaute mich in der Eingangshalle um, die sich langsam füllte. Aber jeder schnappte sich einen anderen Zettel, ohne dass ich eine Ordnung darin erkennen konnte. Scheiße, dachte ich, egal, nehm ich halt keinen.
    Als das grüne Signal aufleuchtete, griff ich trotzdem zum nächstbesten Formular, versuchte etwas zu entziffern, konnte aber kein einziges Wort lesen. Ich zitterte. »Zumachen?«, fragte ich in der Tür. Der junge Sachbearbeiter nickte. Er musste mir helfen, dazu war er schließlich da. Als ich ihm das unausgefüllte Formular über den Schreibtisch schob, stutzte er. »Kann nicht Deutsch – bitte helfen!«, sagte ich schnell. Ich sah, wie er unwillig einen Stift, den er in der Hand hielt, auf den Tisch rollen ließ. »Was kann ich für Sie tun?« – »Eine Wohnung! Ich brauche – Wohnung.« – »Nein«, antwortete er, zog die Augenbrauen nach oben und sah mich belustigt an. »Da sind Sie bei mir an der falschen Adresse. Sie wollen sich bestimmt anmelden.« – »Ja!« – »Wo wohnen Sie denn jetzt?« Eifrig zog ich den Zettel, auf dem mir Anja die Adresse aufgeschrieben hatte, aus der Jackentasche. »Hier, Frauenhaus!« – »Ach ja – gut, diese Adresse müssen Sie nun auf dem Formular eintragen.« – »Wo? Ich kann nicht lesen, kann nicht schreiben. Sie können das – ich nicht.« Da schaute er mich mit einem Lächeln an und entgegnete: »Sie lernen das auch noch!« Da lachte ich zurück. Er nahm seinen Stift wieder auf und schrieb: Geburtsname, Geburtsdatum, Geburtsort, Wohnort, Staatsangehörigkeit, Religion, bisherige Adresse, neue Adresse und so weiter. Wort für Wort las er mir vor, antworten konnte ich inzwischen. Bei tunesischen Ortsnamen fragte er mich, wie sie geschrieben werden. Aber das wusste ich auch nicht, ich kannte nur die arabischen Zeichen, also schrieben wir nach Gehör.
    Sozialamt, Arbeitsamt, Ordnungsamt, Rentenamt, Krankenkasse und wieder Sozialamt. So ging das mindestens eine Woche lang. Immer das Gleiche: Vorname, Nachname, Geburtsname, Geburtsort, Religion … immer schneller. Es machte mir sogar Spaß. Ich meldete mich wohnungssuchend, arbeitssuchend, kindersuchend. Und nach kurzer Zeit kannte ich alle Adressen der Ämter auswendig und meine Daten auch. Das machte mich zuversichtlich, je mehr ich registriert und gemeldet war, desto größer wurde mein Selbstvertrauen. Ich war jemand, hier und dort eingetragen, hier und dort wusste man, was ich wollte und wer ich bin – ich konnte mir vertrauen und mir etwas zutrauen. Und jeden Abend schrieb ich in meinen Block, was ich den ganzen Tag über getan hatte beziehungsweise was ich mir für den nächsten Tag vornahm. Nicht viel, oft nur ein paar Worte, manchmal auf Arabisch, aber immer öfter auf Deutsch, wobei mir meistens jemand half.
    Doch meine Stimmungen schwankten. Es gab auch Tage, an denen ich hoffnungslos war, an denen ich wieder im Bett liegen blieb und weinte, bis das Kopfkissen feucht war. Manchmal schleppte ich mich dann ins Telefonhäuschen, einen winzigen Raum, in dem nur ein Tischchen mit dem Telefon und ein roter Plüschsessel standen. Dort wählte ich langsam die Nummer meines Schwagers in Tunesien, legte aber schon vor dem ersten Klingelzeichen wieder auf. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn sich jemand gemeldet hätte. Hätte ich geweint oder geschrien? Aus lauter Wut auf meinen Mann, der mir alles genommen hatte? Hätte ich nach meinen Kindern verlangt? Aber was, wenn man mir gedroht hätte, sie woanders zu verstecken? Was, wenn sie gar nicht mehr da gewesen wären? Nein, um Allahs willen, ich hatte Angst vor der Enttäuschung, wollte nichts riskieren und legte schnell wieder auf.

    Es wurde Winter, obwohl es noch nicht geschneit hatte, freute ich mich in diesem Jahr darauf. Es war frostig,

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