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Loewenmutter

Loewenmutter

Titel: Loewenmutter
Autoren: Esma Abdelhamid
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krampfte sich zusammen. Warum, verdammt nochmal, nahm hier keiner Rücksicht auf mich?
    »Geh, pack deine Sachen«, sagte die Schwägerin. »Was denn bloß?« Abgesehen von den paar Kleidern, die mir mein Mann zur Hochzeit gekauft hatte, hatte ich nicht viel. Trotzdem schnappte ich mir nun den blauen Plastikkoffer, den mir Abdullah aus Tunis mitgebracht hatte. Mit einer Hand zog ich ihn hinter mir her vors Haus, mit der anderen nahm ich Bluse und Rock, die ich jeden Tag von Hand wusch, von der Wäscheleine, stopfte alles hinein, zuletzt die dünne, helle Popelinejacke. Dann deckte ich den Tisch zum Mittagessen.
    Als mein Mann mit seinem Bruder kam, setzten wir uns alle zusammen an den Tisch. Noch immer beachtete er mich nicht, aber ich beobachtete ihn. Sah zu, wie er hektisch ein paar Löffel Couscous in den Mund schaufelte. Sein Kehlkopf sprang auf und ab, während er sie hinunterschlang. Wie abstoßend das aussah, aber das konnte ich ihm nicht sagen. Er war aufgebracht. Ich wollte weg. Die Kinder lärmten und fragten durcheinander, mir schwirrte der Kopf. Ich konnte kaum sitzen vor Aufregung, ich war fahrig. Der Löffel fiel mir aus der Hand, egal, ich bekam sowieso keinen Bissen hinunter. »Fahren wir noch zu meinen Eltern?«, fragte ich und betete stumm, dass Abdullah ja sagen möge.
    Ich wollte mich verabschieden, auch wenn ich nicht wusste, wie das geht, ich wusste nicht, was es heißt, sich zu verabschieden. Einen Abschied hatte ich noch nie erlebt. »Ja, ja«, antwortete Abdullah gleichgültig, »muss nur noch ein paar Sachen einpacken.« Es klang so, als würde ich auch zu diesen Sachen zählen.
    Und das stimmte ja auch. Mein Vater hatte mich Abdullah übergeben. Er übernahm dort, wo der Vater aufgehört hatte. Mit einem Ruck stand ich vom Esstisch auf, zauderte aber gleich wieder, weil ich nicht wusste, was tun. Ob ich mich umziehen sollte? »Los, los«, kommandierte mein Mann. Doch da rannte ich schon in unsere Kammer und zog mir ein sauberes Kleid an. »Wo bleibt sie denn?«, schrie er durchs ganze Haus, konnte er mich nicht direkt ansprechen? »Esma«, rief die Schwägerin, um ihm zu helfen.
    Zum Abschied versammelten sich alle vor dem Haus. Schwager, Schwägerin und fünf Kinder. Wir nahmen uns in den Arm und küssten uns. Obwohl sie in den vergangenen Wochen immer wieder behauptet hatten, ich sei eine von ihnen, hatte ich nicht das Gefühl. Der Abschied war ein Ritual ohne Inhalt. Mein Schwager stapelte meinen Koffer über die anderen Gepäckstücke im Kofferraum von Abdullahs Auto. Dann schlug er die Klappe zu. Ich drückte meine Handtasche aus Kunstleder an mich und zuckte zusammen. »Verdammt nochmal«, der Griff der Beifahrertür war glühend heiß. Um ein Haar hätte ich mir die Finger noch einmal verbrannt. Die anderen lachten. »In Deutschland ist es nicht so heiß«, rief die Schwägerin, »du wirst die Sonne vermissen.«
    Bestimmt nicht! Ich setzte mich ins Auto und schwieg. Mein Mann auch, ohne noch etwas zu sagen, fuhr er los. Was bloß in seinem Kopf vorging? Er würde es mir nie erzählen. Ich kurbelte das Fenster herunter und winkte. All das, was mir hier an diesem Ort zwar nicht unbedingt lieb, aber doch vertraut war, würde ich verlieren. Die Familie, die Verwandtschaft, die sandigen Wege, das flirrende Licht, der Geruch von verbranntem Gras – alles weg.
    Ich schaute in den Himmel, hoch zu den Dattelpalmen am Wegrand, hörte die Trillerpfeife eines Polizisten, irgendwo roch es nach verbranntem Gummi.
    Die Fahrt zum Haus meines Vaters dauerte nicht lange. Keiner erwartete uns, wir hatten uns nicht angekündigt. Ich rannte durch das Gartentor und klopfte an die Haustür. Immer wieder. War denn keiner da? Das konnte nicht sein. Meine Mutter war krank, sie ging nie aus dem Haus. Und wenn sie doch einmal zu meiner großen Schwester ging, dann wurde sie vom Vater geschimpft. Ich wartete. In den vergangenen Wochen hatte meine Mutter das Haus nicht mehr verlassen. Sie litt an starken Depressionen und Wahnvorstellungen. Dauernd fürchtete sie sich vor Einbrechern oder davor, dass jemand den Gashahn aufdrehen könnte und wir alle kläglich zugrunde gingen.
    Aber jetzt war ich panisch. Wenn tatsächlich keiner da wäre, was dann? Ich wollte nicht fahren, ohne mich verabschiedet zu haben und ohne zu wissen, ob und wann ich meine Familie je wiedersehen würde. Wie besessen hämmerte ich mit meinen Fäusten gegen die verschlossene Tür. Endlich schob eine meiner kleinen Schwestern den Riegel von
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