Loewenmutter
um Hilfe rufen können.
Ich schaute in die Lichtkegel, die die Laternen auf die Straße warfen. Alleine! Es würde lange dauern, eigene Wurzeln zu schlagen, das spürte ich. Doch es gab kein Zurück mehr, ich musste da durch, immer weiter. Ich drehte mich um und schlich zurück in das Zimmer rechts vom Flur. Es war fast leer. Das Kinderzimmer. Dort zog ich mich aus, faltete meine Kleider zusammen, legte sie auf den Boden und ging leise zurück ins Schlafzimmer.
Am nächsten Morgen wurde ich von Lärm geweckt. Laute Kinderstimmen hallten an den drei- und viergeschossigen Hausfassaden aus dem vorigen Jahrhundert hoch. Ich versuchte, mich mit geschlossenen Augen zu orientieren. Wo war ich? In einem fremden Bett, in einer fremden Wohnung, in einem fremden Land mit einem fremden Mann. Ich schlug die Augen auf. Das Bett neben mir war leer. Die Decke ordentlich zurückgeschlagen, keine Kleider, keine Schuhe lagen herum. Wo war Abdullah? Wir waren doch gemeinsam mitten in der Nacht hier angekommen. Oder hatte ich alles nur geträumt? Schweißperlen rannen mir über den Rücken, voller Panik sprang ich aus dem Bett. Lief ins Wohnzimmer. Die Koffer und Reisetaschen im Flur waren noch ungeöffnet. Ich träumte nicht. Aber ich konnte mir keinen Reim darauf machen, wohin mein Mann hätte verschwunden sein können. Verdammt nochmal, warum sagte er mir nie etwas? Barfuß lief ich zum großen Wohnzimmerfenster, schob die Gardine zurück, rüttelte am Griff. Es war gekippt, ich hätte es gerne richtig geöffnet, so wie ich das von Tunesien her kannte, bloß wie?
Draußen war es regengrau, kleine Kinder mit Schulranzen auf den Rücken trabten im Tross die Straße hinauf. Von Abdullah weit und breit keine Spur. Auch nicht von seinem Auto. Ich wusste nicht, auf welcher Seite des Hauses er es geparkt hatte, aber unwillkürlich suchte ich danach. Wie zerzaust die kleinen Mädchen aussahen im Hamburger Wind. Mir fiel auf, dass die meisten ihre langen blonden Haare offen trugen, keine hatte sie zu Zöpfen gebunden, wie ich es von zu Hause her kannte. Warum nicht? Von meinem Vater habe ich übrigens auch nie gewusst, was er tat und wo er war, ging es mir durch den Kopf. Warum sollte mir Abdullah jetzt Rechenschaft ablegen? – Weil ich Angst hatte und weil ich mir einen anderen Ehemann als meinen Vater gewünscht hätte.
Fremde Kleider
Ziellos tigerte ich durch die Wohnung. Wie in einem Käfig. Nach kurzer Zeit schon kannte ich jede Ecke, jede Holzleiste und jedes Kabel. Was tun? Immer hatte ich gesagt bekommen, was ich tun und lassen soll, jetzt sagte keiner etwas. Von unserem Reiseproviant war noch Brot übrig, auch Tee und Oliven. Ich aß, trank und beschloss zu warten. Doch Abdullah kam nicht. Ich horchte. Hörte nichts, nur die Geräusche der Straße. Ich musste mir selbst eine Beschäftigung suchen: Koffer und Taschen ausräumen. Es fiel mir schwer.
Viel hatte ich ja nicht mitgebracht. Ein wenig Folklore, Tunika, Tücher, Kaftan. Ich zog die Koffer über den Teppich ins Schlafzimmer, löste die Schnüre, die ich darumgebunden hatte, damit sie sicher zublieben. Als ich den großen Wandschrank mit den goldenen Türgriffen öffnete, traf mich der Schlag. Träume ich? Der Schrank war voll mit Kleidern, Blusen, Mänteln und Jacken. Was ist das? Sogar Unterwäsche und Schuhe! Für wen oder von wem ist das alles? Für mich? Hat mein Mann diese ganzen Sachen für mich gekauft? Auch die Nachthemden? Wer hat ihm dabei geholfen? Warum ohne mich? War Abdullah ein orientalischer Prinz, der seine Geliebte mit schönen Kleidern ausstattet?
Ich setzte mich aufs Bett und starrte die Kleiderberge an – unheimlich! Das Haus schien eingeschlafen, aber ich fröstelte, die Zeit war zu lang. Irgendwann schichtete ich meine mitgebrachten Habseligkeiten zu den schon vorhandenen. Mein Mann sorgte für mich, wie er es dem Vater versprochen hatte. Nicht einmal meine eigenen Kleider musste ich mir aussuchen.
Abdullah hatte schon eingekauft, als er nachmittags nach Hause kam. Er war auf Frühschicht gewesen. Obwohl er wegen unserer verspäteten Rückkehr nach Deutschland von Tunesien aus eine Krankmeldung an seinen Betrieb geschickt hatte, musste er sich sofort nach unserer Rückkehr melden und seine Arbeit aufnehmen. Mir das zu sagen, war ihm nicht in den Sinn gekommen. Ich hatte ihn ja auch nicht danach gefragt.
»Armes Mädchen! Musst so viel leiden.« Stundenlang saß ich in den nächsten Wochen und Monaten vor dem großen Spiegel im Schlafzimmer und
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