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Loewenmutter

Loewenmutter

Titel: Loewenmutter
Autoren: Esma Abdelhamid
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andere tun, ohne zu verstehen, warum. Leute beobachten und nachmachen. Bis heute lerne ich so: hingucken und nachmachen.
    Es war Nacht, die Straßen glitzerten nass. Am Horizont versanken sie im Licht der Straßenlampen. Kein anderes Auto war auf der Straße, nur wir. Mit unseren neuen Freunden hatten wir beim letzten Halt Adressen ausgetauscht und uns dann verabschiedet. Abdullah fuhr langsamer, plötzlich hielt er alle paar Meter: rot, gelb, grün. Geisterhaft blinkten die Ampeln im Dunkel. Ich kniff die Augen zusammen und sah, wie sich rote und grüne Streifen wie Wollfäden ineinanderknäulten. »Hamburg«, sagte mein Mann. Wir waren schon mitten in der Stadt, ohne dass ich es richtig bemerkt hatte.
    Sofort war ich wach, schaute mich um und wurde richtig aufgeregt. Die Straßen waren leer. »Warum hältst du an den Ampeln an. Wir sind doch alleine?«, fragte ich. – »Hier ist nicht Tunesien«, antwortete Abdullah. »Wir sind in Deutschland, hier gelten andere Regeln, und alle müssen sich daran halten. Es ist nicht egal, wie und wo man fährt.« – »Was für eine tote Stadt!«, sagte ich. In Tunesien haben die Cafés und Restaurants fast die ganze Nacht auf, Männer sitzen auf der Straße, rauchen und spielen Karten. Hier ist alles ausgestorben.
    Aber mir gefielen die hohen, alten, mit Stuck verzierten Bürgerhäuser, die aufgereiht wie Bauklötze am Straßenrand standen, mit ihren vielen immer gleich großen Fenstern mit Gardinen. Dazwischen niedrige Backsteinhäuser, hineingestreut wie rote Perlen, auch mit weißen Gardinen. Es kam mir alles gleich vor, die bunten Autos an den Straßenrändern, brav hintereinander geparkt, keines tanzte aus der Reihe, die Ampeln in regelmäßigen Abständen, Zebrastreifen, Bäume – alles solide, kräftig, verlässlich.
    Irgendwo dazwischen würde mein Platz sein – passte ich überhaupt hierher? Ich unselbständiges Gewächs aus dem Süden, das innerhalb ihres Familienclans ihren Ort und ihre Rolle einnahm wie die Mistel ihren Platz in den Zweigen eines Baumes? Was aber, wenn dieser Baum, die Familie, plötzlich fehlt? Durch die Heirat mit einem fremden Mann habe ich nicht nur meine Familie, sondern auch mich verloren. Alles ist fremd: das Land, der Mann, ich mir selbst. Ich würde mich nicht nur in einem neuen Land zurechtfinden, sondern auch selbst neu finden müssen.
    Das Grün fiel mir auf und die vielen Parks und Bäume mitten in der Stadt. »Hamburg-Harburg«, zischte Abdullah neben mir und fing an zu fluchen. Ich verstand nicht. Er war bestimmt erschöpft, kein Wunder, nach zwei Tagen Autobahn. »Was ist?«, fragte ich. Keine Antwort. Er lenkte das Auto drei- oder viermal um den gleichen Block, wie ein Hund, der kreisend das Gras platt tritt, bevor er sich setzt.
    Plötzlich hielt er vor einem Haus. »Hier, schau her, hier wohnen wir.« – »Wo?« – »Oben, im ersten Stock, über der Bäckerei.« – »Welche Fenster?« – »Bist du blind? Die mit den weißen Gardinen.« – »Ach?« Eine riesige goldene Brezel hing neben den Fenstern und ein Schild, das ich nicht lesen konnte.
    Abdullah war schon aus dem Auto gesprungen und hatte die Heckklappe aufgerissen, während ich noch fröstelnd auf dem Sitz kauerte. »Beeil dich, und nimm, so viel du tragen kannst«, rief er und drückte mir ein paar prall gefüllte Plastiktaschen in die Hand. Wie einem Esel, dem man Säcke auf den Rücken packt. Selbst griff er sich zwei schwere Koffer und bugsierte mich dann vor sich her zu einer dunklen Haustüre. Drei hohe Stufen, rechts daneben ein erleuchtetes Schaufenster mit rot karierter Decke, auf der Brötchen und Brote ausgelegt waren. Solches Gebäck kannte ich nicht. Er schloss auf, ich fragte mich, ob das ganze Haus ihm gehörte, weil er den Schlüssel dazu hatte.
    Wie gut es roch, nach Brot, und es war warm. Von ganz weit hinten hörte ich Stimmen – später erfuhr ich, dass dort die Backstube war, in der schon mitten in der Nacht gebacken wurde. Dicht neben mir ein Brummen, das mir Angst machte. Es war ein riesiger Kühlschrank, aber richtig gesehen habe ich den erst ein paar Tage später.
    Abdullah ging voran, tastete an der Wand entlang, und plötzlich ging ein schummriges Licht an. Ich sah mich um. »Mara«, rief er von oben, »Weib, wo bleibst du?«, und ich stieg die Treppe hinauf. Eine Tür stand halb offen, dahinter brannte Licht. Ich stieß sie ganz auf und stand auf festem Boden. Fester Boden unter den Füßen, ein seltsames Gefühl, das merkte ich jetzt
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