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Loewenmutter

Loewenmutter

Titel: Loewenmutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esma Abdelhamid
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meine Verwandten in Tunesien anlegen. Man darf ihn ihnen nicht einfach wegnehmen. Auch die Vorhänge nicht. Das Fenster war mein Freund, bei ihm blieb ich stehen und versuchte zu erraten, was draußen auf der Straße vor sich ging. Wie schon in der ersten Nacht.
    Mein Leben in Deutschland spielte sich in diesem Rahmen ab. Ich schob die Gardine zurück, stützte die Ellenbogen auf das Fensterbrett, legte den Kopf in die Hände und schaute hinaus: Morgens, wenn es noch frostig kühl war, zogen Horden von Schulkindern in ihren dünnen Jäckchen durch die Straße, hoch zur Grundschule am oberen Ende. Wenn sie mittags zurückkamen, baumelten die Jacken lustig über ihren Schulranzen auf den schmalen Rücken. Wie hüpfende Vogelscheuchen sahen sie aus. Dann war die Gasse wieder still. Einmal am Tag brachte ein Lieferwagen Lebensmittel für die Bäckerei unter unserer Wohnung. Ein dicker Mann schleppte schwere Kartons zur Haustür rein und andere wieder raus. Manchmal wechselte er mit dem Straßenkehrer ein paar Worte. Der piekste mit einer langen Stange leere Getränkepackungen und Eispapiere, die die Kinder fallen gelassen hatten, auf.

    Es wurde früh Herbst in diesem Jahr. Die grünen Wacholderbüsche auf den schmalen Rabatten vor den Häusern schien das nicht zu stören. Doch die jungen Kastanienbäume, deren Laub sich allmählich rot und gelb verfärbte, gaben ihren Nachwuchs preis und warfen ihre Früchte ab, kleine Igel, die auf den gepflasterten Wegen aufplatzten. Reif und glänzend, aber vom Straßenkehrer weggefegt, bevor sie neue Erde fanden.
    Ich hätte vieles darum gegeben, rausgehen zu können. Doch Abdullah erlaubte es mir nicht und ließ mir keinen Schlüssel da. Womöglich ist das der Grund, warum ich es heute noch nicht lange in Wohnungen aushalte, auch nicht in meiner eigenen. Nicht bei geschlossenen Türen und Fenstern. Dauernd laufe ich von einem Zimmer ins andere, immer fällt mir etwas ein, weswegen ich sofort wieder rausmuss. Ich suche nach Möglichkeiten, um außer Haus zu übernachten, bei meinem großen Sohn oder bei einer Freundin. Als wäre ich auf der Flucht. Unterwegs, ich liebe es, unterwegs zu sein, das ist wichtig für mich. Eine Stunde zur Arbeit zu fahren, eine zurück, das ist kein Problem. Obwohl ich mir manchmal abends nach der Arbeit nichts anderes wünsche, als mich vor dem Fernseher in eine Decke zu kuscheln und einzuschlafen.
    Mein Mann hatte mir eingeschärft, weder ans Telefon zu gehen, wenn es klingelte, noch die Tür aufzumachen, wenn er weg war. Es konnte ja sowieso nicht für mich sein. Keiner kannte mich, und ich kannte keinen. Was soll’s? Was hatte ich zu befürchten? Aber seine Verbote verunsicherten mich. Nicht einmal auf die Toilette, die außerhalb der Wohnung im Treppenhaus lag, traute ich mich zu gehen. Jedes Mal, wenn ich musste, öffnete ich vorsichtig die Tür und schaute erst durch den Türspalt, um mich zu vergewissern, dass ich auch niemandem begegnete. Wie eine Gefangene.

    Es war frühmorgens. Tränen liefen mir übers Gesicht, als ich aufstand. Ich hatte schlecht geträumt und schreckliches Heimweh. Als Abdullah zur Arbeit stürmte und die Tür zum Treppenhaus aufriss, schlug mir der warme Geruch von Brot entgegen. Wie jeden Morgen. Aber heute war es anders. Ich hatte Heimweh und wollte – ja warum eigentlich nicht? – zum ersten Mal ein Brot backen. Teig kneten und formen, wie zu Hause. Mich nicht mehr ins Bett legen oder eine Modenschau vor dem Spiegel veranstalten. In Tunesien hatte ich nie gerne gebacken, doch nun spürte ich eine große Sehnsucht danach. Obwohl wir hier gar keinen Lehmofen hatten, sondern nur einen deutschen Elektroofen, von dem ich kaum wusste, wie er funktionierte.
    Aufgeregt riss ich alle Schubladen in der Küche auf, suchte nach Mehl und Salz, fand alles außer Hefe. Nur ein leeres Papier lag im Kühlschrank. Ich faltete es auf und strich es mit meinen Fingern glatt: In einer Bäckerei muss es Hefe geben, dachte ich, sicher würde man mir dort Hefe geben. Ohne zu überlegen, schlüpfte ich in meine Hausschuhe und ging die Treppe nach unten. Die Tür zur Küche zwischen Ladengeschäft und Backstube stand wie immer halb offen. Dort hatte ich die Bäckersfrau schon ein paar Mal mit den Lehrlingen aus der Backstube sitzen und Kaffee trinken sehen. Eine Frau mit kurzen blonden Haaren, zupackend und freundlich, vielleicht zehn Jahre älter als ich.
    Ich klopfte. »Herein!« Ich schob die Tür ganz auf und machte einen Schritt

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