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Loewenmutter

Loewenmutter

Titel: Loewenmutter
Autoren: Esma Abdelhamid
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das, Frauen nicht.
    Warum um Himmels willen war ich nicht von zu Hause weggelaufen wie meine Brüder? Ich hätte doch wissen müssen, was mir mit einer Heirat blühte. Meine Brüder waren mutiger, sie waren noch jung damals, kaum 15, und wollten die Schläge des Vaters nicht länger ertragen. Lange wusste keiner, wohin sie geflüchtet waren. Es interessierte auch niemanden. Man sprach nicht mehr von ihnen, nachdem sie weg waren. So war der Schmerz leichter zu ertragen. Schon seltsam. Mein Vater war stolz auf seine Söhne gewesen, aber sobald sie die Tür hinter sich zugemacht hatten, schien er sie vergessen zu haben. Verstoßen hatte er sie. Erst spät erfuhren wir, dass ein Bruder nach Libyen durchgebrannt war, der andere nach Frankreich, wo die Tante eines Freundes für ihn sorgte. Mein kleiner Bruder vertrieb sich die Zeit mit Diebstählen.
    Als Abdullah und die Freunde hinter uns eine Autobahnraststätte für eine Pause ansteuerten, waren meine Augen verquollen, aber die Tränen getrocknet. Es war irgendwo in den Alpen. Die Luft klar und dünn, auf den Berggipfeln lag Schnee. Das hatte ich noch nie gesehen. Was für eine Freiheit dort oben, Allah so nah. Ich wollte nicht mehr weinen wegen meines Mannes, sondern stolz sein. Nicht demütig. Also spielte ich meine Rolle, wie ich es schon als Kind gelernt hatte. Mit einem hohlen, tiefen Lachen, das mich kindlich macht, tat ich so, als sei nichts gewesen. Der Wind pfiff mir um die Ohren, ich fror. Asiya legte mir eine dicke Jacke über die Schultern und hakte sich unter. An warme Kleidung hatte ich überhaupt nicht gedacht, nicht einmal an Strümpfe. Warum hat mir keiner von den Bergen und vom Schnee erzählt? Dafür berichtete mir Asiya jetzt von Deutschland, von riesigen Supermärkten mit kuscheligen Fellmänteln. Mein Mann hatte sich einen Fotoapparat umgehängt und spielte den Charmeur, der uns wie ein Pfau umbalzte und knipste. Die grandiose Aussicht interessierte ihn nicht.

3.
    »Ich fragte nichts – er sagte nichts«
    Ich weiß nicht mehr, wie lange wir gefahren sind und wie viele Pausen wir gemacht haben. Obwohl ich ständig auf die Uhr sah. Zu Hause hatte ich keine Uhr getragen und die Zeit am Stand der Sonne abgelesen. Aber nun starrte ich auf diese kleine, runde Scheibe wie auf eine Glaskugel, die mir die Zukunft voraussagen konnte. Abdullah machte immer wieder einen Anlauf, ein Gespräch anzufangen, aber ich schüttelte nur den Kopf. Ich wollte nichts von seiner deutschen Tochter wissen, nichts. Wollte er mich noch mehr demütigen? Oder mir etwas von Deutschland erzählen? Aber ich hörte nicht und spielte an meinen Fingern herum.
    Draußen trieb der Wind graue Wolkenfetzen aufgetürmt wie Zuckerwatte vor sich her, irgendwann prasselten die ersten Regentropfen. Abdullah stellte den Scheibenwischer an. Noch nie hatte ich dieses gleichmäßig schlurfende Geräusch gehört. Immer im gleichen Tempo, hin und her, links und rechts, auf und ab. Der eintönige Rhythmus lullte mich ein, und meine Gedanken kreisten um einen einzigen Ort: Heim, ich sehnte mich nach Hause zurück, nach Tunesien und zu meiner Familie.
    Wie wäre es, wenn ich mich in Hamburg in den Zug oder in einen Bus oder ins Flugzeug setzen würde? Einfach zurückfahren? Das habe ich noch nie gemacht, ich weiß nicht, wie ein Bahnhof aussieht oder ein Flughafen, keine Ahnung, ich bin noch nie verreist. Ganz abgesehen davon, dass ich kein Geld dafür habe. Nicht einmal ein Portemonnaie. Abdullah bezahlt mir den Kaffee an der Autobahnraststätte und drückt mir auch ein paar Pfennige für die Toilettentür in die Hand – die ich dann doch nicht aufbekomme, weil mir der Mechanismus fremd ist. O Gott, und die Spülung erst! Zu Hause haben wir ein Plumpsklo gehabt, wie soll ich wissen, wie eine Spülung funktioniert? Was hätte ich getan ohne meine tunesische Freundin vom Schiff? Nicht einmal einen Wasserhahn aufdrehen kann ich. Manchmal gab es auch nichts aufzudrehen, sondern das Wasser lief je nach Verrenkung, die ich vor dem Spiegel machte. So kam es mir zumindest vor. Vor dem Waschbecken hatte ich mir angewöhnt, immer alle anderen vorzulassen. Weil ich zusehen wollte, wie die anderen Frauen es anstellten, ihre Hände zu waschen. Manchmal musste ich die Hände direkt unter den Wasserhahn halten, damit das Wasser lief, manchmal rechts davon, manchmal gab es irgendwo einen Knopf, den ich drücken musste. Ich beobachtete und lernte schnell. Auf den Autobahnraststätten habe ich gelernt zu tun, was
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