Loewenmutter
Dazwischen Amal. Sie genoss es, auf der Suche nach Jacken, Kleidern, Strümpfen, Schuhen, Heften, Schultasche und Mäppchen die Holzstege zwischen den Ständen entlangzupoltern. Wenn ich ihr dann die Kleider vor Bauch und Brust hielt, um zu sehen, ob sie passten, leuchteten ihre Augen, und sie trippelte ganz aufgeregt mit den Füßen. Blaues Röckchen, weiße Bluse, bunte Bänder für ihr krauses Haar. Wie stolz sie war, plötzlich zu den großen, zu den Schulkindern zu gehören. Ich auch. Zum ersten Mal in meinem Leben kaufte ich Schulsachen für mein Kind. Amal hüpfte und tanzte an meiner Hand.
Am Tag der Einschulung war ich mindestens so aufgeregt wie sie. Aufgeregter als an meinem eigenen ersten Schultag. Ein eisiger Wind trieb vertrocknete Grasbüschel vor sich her, und in den Straßen der Stadt wirbelten faulige Orangenschalen, Papierfetzen, Sand und vergammelte Plastikbecher durch die Luft. Aber ich sah nur meine Tochter, so stolz war ich. Zum ersten Mal begleitete ich mein Kind zur Schule. Amin und Jasin hatte ich nie zur Schule gebracht. Das wollte ich jetzt nachholen. Ich hatte Amal herausgeputzt wie einen Weihnachtsbaum und sie sogar zu einem Fotografen gebracht. Sie war die Hübscheste von allen. Die Kinder lärmten und tobten in dem kleinen Schulhof, der von einer baufälligen Ziegelmauer umgeben war. Doch Amal stand ganz schüchtern und still neben mir, sie hielt sich an meinem langen Rock fest. Alles war ihr fremd. Ich sah in ihre großen ernsten Augen, lachte sie an, griff nach ihrer Hand: Sie würde es einmal besser haben als ich. Nicht unbedingt hier, sondern in Deutschland oder Frankreich, egal wo, davon war ich überzeugt.
Als die Lehrerin ein paar Mal in die Hände klatschte, verstummten die Kinder. Die Größeren stellten sich im Halbkreis auf und sangen ein Lied. Ich sah meine Tochter, ihre runden, geweiteten Augen, und plötzlich sah ich wieder Jasin und Amin. Wie sie hinter der Stellwand am Flughafen verschwinden, die Rucksäcke auf ihren schmalen Rücken, und wie sie sich nicht einmal umdrehen. »Vergiss die Kinder!«, tönte es in mir. Das hielt ich nicht aus, ich wandte mich ab und fing an zu weinen.
Seit sechs Monaten hatte ich nichts von meinen Jungen gehört. Ein halbes Jahr ohne Lebenszeichen. An manchen Tagen wollte ich überhaupt nicht aufstehen, so deprimiert war ich, dann wieder weinte ich nur noch. Wir hatten einen kleinen Heizlüfter ins Wohnzimmer gestellt. Frostig war es, das Haus ohne Heizung kalt wie immer im Winter. Wie um einen Altar saßen wir um den Ofen herum und streckten ihm abwechselnd unsere Füße und Hände entgegen, die doch nicht warm wurden. Unsere Körper hatten wir in Decken eingewickelt. »Esma, dein neuer Pass«, rief der Vater an einem dieser kalten Tage, als er von der Arbeit kam. Endlich! Ich konnte kaum glauben, was das bedeutete. Mit einem Ruck warf ich die Decke zu Boden und lief zur Mutter, die in der Küche Gemüse frittierte. In der Luft hing der ranzig-rauchige Geruch von heißem Öl. Der Vater trat hinzu und reichte mir den Ausweis wie eine kostbare Reliquie. »Pass darauf auf. Dieses Papier erst macht jemanden aus dir.« Ein Ich! Meine Existenz hing daran. Es war ein Gefühl, als würde ich zum zweiten Mal geboren.
Ich freute mich, packte meine Mutter mit beiden Händen an der Schulter und tanzte ein paar Schritte durch die Küche. »Nein«, rief sie. »Und jetzt willst du gehen?« – »Ja! Endlich.«
Aber der Pass allein nützte mir noch gar nichts. Um nach Deutschland zu kommen, brauchte ich ein Visum von der Botschaft, und das wiederum bekam ich nur, wenn ich eine offiziell bestätigte Einladung aus Deutschland vorlegen konnte. Meine Freundin Karimah! Ob sie eine besorgen könnte? Wenn ihr Mann einverstanden wäre – bestimmt. Ich zitterte, als ich am nächsten Morgen ihre Telefonnummer wählte. Auf diese Idee hätte ich schon viel früher kommen können! Sie nahm auch gleich ab, ich rief aufgeregt ein paar Worte in den Hörer: »Karimah! Ich bin’s – Esma.« Doch am anderen Ende blieb es still. »Sag etwas, Karimah. Bist du das, oder habe ich mich verwählt? Wir haben so lange nicht miteinander gesprochen. Hallo.« – »Warum rufst du jetzt erst an?«, kam es zögernd. – »Bitte Karimah, kannst du dir das nicht vorstellen? Weil ich viel zu deprimiert war. Ich bin so verzweifelt, seit mein Mann mit Jasin und Amin abgehauen ist.« – »Warum verzweifelt?« Warum klang meine Freundin nur so zurückhaltend? Ich hatte das Gefühl,
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