Loewenstern
Rechenschaft schuldig wäre. Trösten kann ich Sie nicht und nur hoffen, daß dieser Brief denSchmerz, den ich Ihnen zufügen muß, lindert, wenn es mir gelingt, Ihnen die Notwendigkeit meines Entschlusses nahezubringen. Mein erstes und letztes Wort an Sie aber sei Dank; Sie haben Ruhe und Glück geopfert, um einen musterhaften Sohn aus mir zu machen, und viele Jahre durfte ich glauben, daß Ihre Mühe gut angewendet war. In der Kadettenanstalt gehörte ich zu den Besten, in zwei Kriegen wurde ich für Tapferkeit ausgezeichnet, und Sie dürfen mir glauben, daß auch die japanesische Gefangenschaft meinen Mut nicht gebrochen hat
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Dennoch hat sie mich von meinen Schicksalsgenossen für immer getrennt. Sie werden zu dieser Wendung der Dinge das Wort «Verrat» hören, und ich werde darauf nichts mehr erwidern können. Es würde auch nichts mehr helfen, denn das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Der Krieg zwischen Rußland und Japan ist unvermeidlich, und er wird von beiden Reichen nichts übriglassen, was des Aufhebens wert wäre. Nur daß Rußland zum Versinken zu groß ist, es kann nur verfaulen. Japan aber wird untergehen
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Was kümmert es mich noch, liebe Mutter? Sie werden hören, daß ich mich den Japanesen angedient hätte und meinen Kameraden in den Rücken gefallen sei, daß ich sie bloßgestellt, denunziert, die wahre Absicht unserer Expedition aufgedeckt hätte: den kommenden Feind auszuspionieren. Ich soll die Befreiung der Kameraden hintertrieben haben, weil ich mich bei den Japanesen ins beste Licht setzen und mir eine Stellung verdienen wollte. Dazu sage ich nur noch, daß mir solche Absichten, wenn ich sie denn gehabt hätte, nichts genützt hätten. Sie hätten mich bei Russen und Japanesen gleich unmöglich gemacht, und bei diesen noch mehr
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Natürlich konnte und wollte ich niemals einer der Ihren werden. Was ich mir vorgesetzt hatte, war etwas ganz anderes: sie gegen die Invasion fremder Mächte fester zu machen, sie in ihrer gesonderten und einmaligen Existenz zu bekräftigen. Dafür wollte ich ein Dolmetscher sein, auf den sie hören mußten, aber nicht, damit sie die übrige Welt besser verstünden, sondern damit sie an ihrem gerechten Unverständnis festhielten; nicht, damit sie ihren Handel mit dem Ausland verbesserten, sondern damit sie die Kraft behielten, darauf zu verzichten. Dafür wollte ich ihnen mein Wissen über Europa, auch mein bestes Wissen über mich selbst, zur Verfügung stellen und sie mit dem nötigen Gegengift stärken
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Japan sieht im Zustand seiner Isolation wie ein begriffsstutziges Land aus. Aber die Innenseite seines Unverständnisses ist eine einzigartige Kultur, deren Teilnehmer selbst nicht wissen, wie gut sie darin aufgehoben sind. Auch der Fisch weiß nichts vom Wasser, in dem er schwimmt, und hat keine Ahnung, daß sein Element anderswo ein kostbares Gut sein könnte, nach dem man dürstet, wenn es fehlt, und verdurstet, wenn es versiegt. Auch die Japanesen wissen nichts über das hinaus, was sie für ihre wohlgeordnete und subtile Lebensart wissen müssen. Dieses bezaubernde Nichtwissen ist zu ihrer zweiten Natur geworden, und alles Menschliche ist ihr viel weniger fremd als uns
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Aber Sie stellen sich auch nicht vor, wie empfindlich ihr System ist; wie leicht sie es durch Neugier selbst zerstören können. Japan hat wie in einem festen Glas exakt jene Mischung der Gase entwickelt, in der seine Geschöpfe atmen können. Auch seine Kultur ist ein Ergebnis dieser Mischung und würde hinfällig, wenn sie einer andern Außenwelt ausgesetzt würde; diese müßte nicht einmal rauh oder unempfindlich sein. Japanesen sind Seegeschöpfe, die nur in ihrem Element ihre wahre Gestalt entfalten und, an den Strand gespült, zur Unansehnlichkeit verfallen und Seemist werden, wie jedes Treibgut der allgemeinen Geschichte, wenn die Grundlage ihrer besonderen Geschichte verschwindet
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Natürlich läßt sich der Mensch die Neugier sowenig verbieten wie sein Unglück. Ich habe in der Gefangenschaft Japanesen kennengelernt, die nichts dringender wünschen, als in einer andern Welt anzukommen. Ihre Hoffnung, darin Tüchtiges zu leisten, ist berechtigt; lernbegierig und lernfähig, wie sie sind, wollen sie alles wissen – nur nicht, daß sie dabei verlieren müßten, was sie zu Japanesen macht. Sie wären wohl Musterschüler der europäischen Kultur, aber sie verlören den Schutz vor der Einsicht, daß sie damit überflüssig geworden sind. Ich habe gute, ja die begabtesten Japanesen
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