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Loewenstern

Loewenstern

Titel: Loewenstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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immer weniger. Er kochte für sie, er wachte bei ihnen, aber sie starben ihm weg, einer nach dem andern, bis auf zwei. Aber er hatte nie versäumt, der Gesellschaft aus Ochotsk die Honneurs zu machen, bis sie wieder schellenläutend davongestoben war. Er begrub seine Toten, während Rikord nur darauf wartete, daß das Eis brach und er endlich ausfahren konnte, nach Kunaschir. Aber nicht ohne die Japanesen! Jetzt mußte sich zeigen, was Kahei seinen Landsleuten wert war. Doch der Handel war ungleich geworden. Acht wohlgenährte Langnasen gegen drei magere Äffchen!
    Hat Kahei Russisch gelernt? fragte ich.
    Ja, sagte Nadeschda, vom Küchenjungen Olinka, den ihm Rikord zugeteilt hatte. Der war damals zwölf Jahre alt. Sie arbeiteten jeden Tag viele Stunden miteinander. Zuerst brachte Olinka Kahei russische Wörter bei, dann lernte Kahei kyrillische Buchstaben, damit Olinka das, was er sagte, auch schreiben konnte. Dabei hat er Japanesisch gelernt, ohne es zu merken, und nach ein paar Wochen schrieb er die ersten Zeichen. Einer wäre verloren gewesen ohne den andern. Und als sie sich nach Kunaschir einschifften, ging der Unterricht weiter. Olinka, der Dolmetscher, lernte die Seefahrt auf Japanesisch, und Kahei hatte endlich einen Sohn. Sein eigener tauge nichts, hat er mir gesagt. Aber das war vielleicht nur seine Art, das Eigene zu verkleinern.
    Jetzt konnten auch Sie mit ihm reden, sagte ich.
    Zum zweiten Mal sah ich Tränen in ihren Augen. Sonst saß sie unbewegt, bis ihr die Stimme wieder gehorchte.
    Er war klein, sagte sie, einen Kopf kleiner als wir alle, und doch wirkten neben ihm andere Menschen … überflüssig. Sie hatten zu viel von allem: Körper, Stimme, Bewegung. Sogar wenn er las – er konnte tagelang lesen –, drückte seine Haltung Respekt aus, vor dem Buch und vor sich selbst. Auch wenn er ganz vertieft war –alles an ihm blieb anwesend. Wenn er aufstand, dann
plötzlich
– als schnelle ihn der Boden weg. Sofort stand er im Gleichgewicht. Neben ihm hatte ich das Gefühl, ich müsse immer noch stehen
lernen
, wie früher gehen oder schwimmen. Er hatte drei Lebensregeln: Niemanden kleinmachen. Sich selbst nicht vergrößern. Maß und Gewicht aller Dinge richtig einschätzen. Die Weisheit des guten Kaufmanns. – Plötzlich lachte sie hellauf. – Aber er konnte auch überschnappen, durchdrehen –
rasen
wie ein Dämon. Auf der Fahrt nach Kunaschir hatte Rikord ein Dokument dabei – ein Attest der sibirischen Behörde, den
Anfang
einer Entschuldigung für Chowstows Missetat. Rikord war weite Wege gegangen für dieses Papier. Jetzt durfte nur nichts mehr dazwischenkommen, kein Schiffbruch, kein Weltuntergang! Doch da
kam
etwas dazwischen –
einer,
Kahei. Rikord hatte ihm das Dokument gezeigt – das ist seine Art. Er nahm es in die Kajüte mit und studierte es mit Olinka, Wort für Wort. Am Ende gab er es Rikord zurück und sagte: Ich hätte es zerreißen müssen. Nur weil wir Freunde sind, habe ich es nicht getan.
    Die
Diana
näherte sich der «Bucht des Verrats», der Anblick der Küste machte Kahei wieder zum Japanesen und störrisch wie ein Maultier. Rikord hielt ihn für verrückt. Oder
spielte
er nur verrückt? Der russische Brief war für den Kommandanten von Kunaschir bestimmt, denselben, der die Russen erst gefangengenommen, dann totgemeldet hatte. Eine Irreführung, die hiermit aufgeflogen war; mit der Rückkehr der
Diana
und dem Brief, den sie zu bestellen hatte, verlor er sein Gesicht. Wer sollte ihm diesen Brief überreichen? Einer von Kaheis Japanesen, verfügte Rikord – Kahei selbst, seinen einzigen Trumpf, gab er natürlich nicht aus der Hand.
Nein
, entgegnete Kahei; der Brief sei ungehörig. Darin drohte nämlich der Kommandant von Ochotsk: gäben die Japanesen ihre Gefangenen nicht heraus, so würde ihr
Reich in den Grundfesten erschüttert
.
    War das die Sprache, mit der man eine Entschuldigung begleitet? Wenn die Russen ihre Drohung für angebracht hielten, gab es nur einen einzigen, der sie durch persönlichen Auftritt entkräftenkonnte,
mündlich
– Kahei. Wer sonst konnte dafür sorgen, daß die Behörden den Brief richtig lasen, oder am besten: gar nicht?
    Rikord verlor die Fassung. Auch Kahei sparte sich jedes weitere Wort und verschwand in der Kabine. Er schnitt sich die Locke vom Kopf, packte sein Bildnis in ein Kästchen, rief seine Japanesen und händigte ihnen die Sachen aus, zusammen mit seinem Langschwert: sie möchten alles seiner Familie überbringen.
    Sie

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