Loewinnenherz
Mann heiraten könnte, den ich vorher nicht kennengelernt hatte. Und so willigte meine Mutter ein, dass Refik vor der großen Hochzeit in der Türkei zu uns nach Deutschland kommen sollte, damit ich ihn kennenlernen könnte. Sie ging sogar so weit, mir zuzugestehen, dass ich ihn ablehnen durfte, falls er mir völlig zuwider war. Ich klammerte mich an diese Hoffnung. Selbstverständlich würde ich ihn ablehnen. Und dann hätte ich endlich die Freiheit, zu tun und zu lassen, was ich wollte.
Tief im Inneren wusste ich schon damals, dass das eine Illusion war. Ich würde mich nie gegen meine Mutter durchsetzen können. Trotzdem klammerte ich mich an diese Hoffnung, so klein sie auch war. Und so setzte ich mich hin und schrieb Refik einen Brief, in dem ich ihn einlud, zu uns zu kommen, damit wir uns kennenlernen könnten.
Ich weiß nicht mehr, welche Fantasien mir damals durch den Kopf jagten. Eine davon war, dass ich heiraten könnte, um mich gleich danach wieder scheiden zu lassen. Ich war wie besessen von dieser Idee: Ich würde heiraten und dann, als verheiratete Frau, der meine Mutter nichts mehr sagen konnte, würde ich umgehend die Scheidung einreichen. Heiraten, scheiden lassen – das schien mir der geniale Ausweg zu sein. Noch nicht einmal meine Mutter hatte an dieses Schlupfloch gedacht. Was war ich doch naiv.
Während all dieser Zeit begleitete mich das Bild jener Anwältin. In einem Paralleluniversum, das mit meinem durch nichts verbunden war, durchlebte ich die Karriere einer erfolgreichen Frau, die ihre Entscheidungen alleine trifft, sich an keinen Partner bindet, sondern selbstbestimmt und souverän durch ihr Leben schreitet. Diese Frau hatte viele Freunde, die sie treffen konnte, wann immer es ihr gefiel. Und wenn ich mich auch im wirklichen Leben immer mehr von all diesen Freiheiten entfernte, so hatte ich doch in meiner Fantasiewelt an dieser Art zu leben teil.
|44| Die bittere Realität holte mich rasch ein. Refik nimmt meine Einladung an. Auf einmal gibt es ein Datum. Am 12. April 1992 soll er bei uns eintreffen. Meine Zeit läuft ab. Wie lange kann ich es verantworten, Udo von den Heiratsplänen meiner Mutter nichts zu erzählen? Aber noch immer habe ich ja die Möglichkeit, Refik wieder nach Hause zu schicken. Das hat meine Mutter in einem schwachen Augenblick gesagt. Aber war es tatsächlich Schwäche, oder ließ ich mich vielleicht nur zu leicht täuschen?
In meinem Kopf kreisen die Gedanken. Und so vergeht die Zeit, der 12. April 1992 rückt näher. Und dann ist es so weit. Es ist ein schöner Frühlingstag, die Sonne scheint und Vögel zwitschern, der erste laue Wind weht durch Nürnberg. Ein Tag wie aus dem Bilderbuch. Was könnte heute nicht alles Wunderbares geschehen. Stattdessen fühle ich mich, als würde ich zur Schlachtbank geführt.
An diesem Tag gehe ich nicht zur Arbeit, ich habe um Urlaub gebeten, keiner meiner Kollegen weiß, warum. Ich bin gerade im Garten, als meine Mutter mich ruft. „Şengül!“, wie immer klingt es wie ein Befehl. Ich springe auf. Und bemerke selbst, dass ich mich wie ein dressierter kleiner Hund benehme. Und hasse mich dafür.
Als ich vor meiner Mutter stehe, mustert sie mich mit zusammengekniffenen Augen.
„Wie siehst du denn wieder aus?“, sagt sie unwirsch. „Mach dich gefälligst hübsch. In ein paar Stunden ist er da.“
Na und, will ich patzig antworten, wen interessiert das schon? Soll er doch kommen oder fortbleiben, mir ist das egal. Aber das stimmt nicht. Ich habe eine Riesenangst. Denn ich weiß, ist er einmal da, wird es nie mehr so sein wie zuvor. Ganz deutlich fühle ich, dass sich ein großes Unglück auf mich zubewegt.
Ich will meiner Mutter in diesem Augenblick so viel sagen. Wie verzweifelt ich bin, dass sie mir das antut. Wie sehr ich mir wünsche, dass sie doch ein kleines bisschen Verständnis für mich hat. Doch zwischen uns ist keine Verständigung mehr |45| möglich. Ein hilflos-trotziges „Ich bin doch schon hübsch“, ist alles, was über meine Lippen kommt.
Und trotzdem gehorche ich und gehe ins Badezimmer. Sehe in den Spiegel und betrachte diese blasse, magere junge Frau mit den riesigen, ängstlichen Augen hinter der Brille. Meine Nase ist krumm, seit ich beim Eislaufen unglücklich stürzte und sie mir brach. Damals war ich fünfzehn und wir machten einen Klassenausflug. Eigentlich hätte ich sie operieren lassen müssen, doch dazu war keine Zeit, weil wir zu der Verlobung eines Bekannten fahren mussten, die in
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