Loewinnenherz
Tag unserer standesamtlichen Trauung rückt näher, und die Vorbereitungen sind in vollem Gange. Meine Mutter, meine Schwägerin Gülay und ich gehen gemeinsam ins Stadtzentrum, um festliche Kleidung für das große Ereignis zu kaufen, ein Erlebnis, das so sehr von meinem normalen Alltagsleben abweicht, dass mich plötzlich sogar so etwas wie Vorfreude überfällt. Bald würde ich allein in die Stadt gehen können, wann immer ich wollte, bald würde ich dem Diktat meiner Mutter entrinnen. Bald würde ich eine erwachsene, verheiratete Frau sein, und das bedeutete in meinem Fall sogar so etwas wie Freiheit. Das glaubte ich wenigstens. Und stets hatte ich meinen genialen Plan im Hinterkopf: heiraten und danach sobald wie möglich die Scheidung einreichen. Ich malte mir bereits aus, was ich mit meiner Freiheit anfangen würde. Noch einmal zur Schule gehen, das wünschte ich mir so sehr, etwas lernen, um meinem Idealbild näherzukommen. Nach der Scheidung würde ich das Abitur nachmachen und vielleicht sogar studieren können. Meinen Träumen waren keine Grenzen gesetzt. Ich hatte genug gespart, um mir meine Ausbildung selbst zu finanzieren. Außerdem hatte ich gelernt zu arbeiten, und alles, was ich tat, machte ich voller Leidenschaft und so perfekt, wie ich es nur vermochte. Ich war mir sicher, wenn ich endlich tun dürfte, was ich wollte, |71| dann würde ich alles erreichen, was ich mir wünschte. Was mich all die Jahre so gequält hatte, das war die stete und sinnlose Bevormundung durch meine Mutter, deren Horizont gerade bis zum nächsten Kochtopf reichte. Meine Mutter, die sich seit Jahren so entsetzlich darum bemühte, aus mir eine Kopie ihrer selbst zu machen. Aber das würde ihr nicht gelingen. Ich würde heiraten, und das wäre der erste Schritt in die Freiheit. Was war ich doch naiv. Doch diese Naivität war es auch, die mich damals am Leben hielt.
In einem Anfall von Trotz lade ich meine Arbeitskollegen zu meiner standesamtlichen Hochzeit ein. „Tu es nicht“, fleht mich meine liebste Kollegin an. „Şengül, hör zu, noch ist Zeit. Du kannst diesen Mann nicht heiraten.“
Doch ich lächle nur fröhlich, sie weiß ja nichts von meinem genialen Heiraten-und-Scheidenlassen-Plan. Denn meine geheimsten Gedanken vertraue ich auch ihr nicht an.
Und dann ist es soweit. Es ist der 26. Juni 1992. Bereits Tage im Voraus hat meine Mutter das Essen vorbereitet. Ich trage den eleganten schwarzen Rock und die passende Jacke mit den goldenen Knöpfen, die wir für diesen Anlass gekauft haben, darunter ein glitzerndes Oberteil. Refik erscheint doch tatsächlich in einem Smoking, und ich muss heimlich grinsen, als ich ihn so sehe. Alle anderen sind in festliches Schwarz gehüllt, und auf einmal komme ich mir vor, als gingen wir gemeinsam zu einer Beerdigung. Und tatsächlich, auch wenn ich mir das an diesem Tag nicht eingestehen konnte, trugen wir an diesem Tag meine Hoffnungen zu Grabe. Es ist gut, dass ich nicht weiß, was auf mich wartet, dass ich nicht ahne, dass dieses aufgeregte, übermütige Gefühl, das mich befällt, völlig fehl am Platze ist. Nur meine Mutter, für die dieser Tag tatsächlich ein Freudentag war, sah aus wie ein fröhlicher Papagei, sie hatte sich wieder einmal in den grellsten und kühnsten Farbkombinationen gekleidet. „Mit ihrem schlechten anatolischen Geschmack ist ihr einfach nicht zu helfen“, denke ich. Und dann geht es los.
|72| Mein Vater hat es sich nicht nehmen lassen, seine Autos, im Augenblick sind es drei, auf Hochglanz zu polieren und für diesen festlichen Anlass herauszuputzen. Besonders sein aktueller Benz strahlt nur so und führt die Flotte an. Es ist klar, dass Refik und ich in ihm zum Konsulat gefahren werden, wo die Trauung stattfinden wird. Vor dem Konsulat warten schon rund zwanzig Gäste auf uns. Zwischen den Bekannten meiner Eltern entdecke ich einige meiner Freunde und Kollegen. Ich lächle und gebe mich nach außen entspannt. Doch tief in mir brennt ein Feuer. Es ist eine wilde, verrückte Freude darüber, dass ich bald frei sein werde. Aber was ist dieses andere Gefühl, das sich in diese Freude mischt, ist das etwa Furcht? „Wie funktioniert das eigentlich, wenn man sich scheiden lassen will?“, fragt eine kleine, aber umso hartnäckigere Stimme in mir. „Hast du dir das eigentlich überlegt? Weißt du überhaupt, ob das klappt?“
Am liebsten würde ich den Beamten, der uns in das Trauzimmer führt, fragen: „Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen,
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