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Loewinnenherz

Loewinnenherz

Titel: Loewinnenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Senguel Obinger
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Blutbad an. Es ist allgemein bekannt, wie gewalttätig er sein kann, und wie sehr er es verabscheut, wenn man Frauen schlägt. Und dann noch seine eigene Tochter! So wütend und entsetzt ich auch bin ist mir klar, wenn ich meinen Eltern erzähle, was passiert ist, dann ist das eine ernste Sache, da geht es um Ehre und Tradition, und die große Frage ist nur: Wen bringt mein Vater als erstes um? Wer geht ins Gefängnis und wer ins Grab?
    Ich war damals gerade mal 18 Jahre alt. Ich war so verwirrt, und es gab niemanden, dem ich mich anvertrauen konnte, niemanden, der mich beraten hätte. Ich hatte eine solche Angst, dass jetzt etwas noch viel Schrecklicheres passieren würde, dass eine Familienfehde mit ungewissem Ausgang entstehen würde, von mir verursacht. Mein einziger Gedanke war: Ich muss um jeden Preis verhindern, dass es so weit kommt.
    Refik weinte und sagte, es täte ihm leid. Ich war so wütend und voller Angst, dass ich auf einem Auge blind bleiben würde, dass ich ihm entgegenschleuderte: „Das ist mir ganz egal, ob dir das jetzt leid tut oder nicht. Ich werde es meinem Vater sagen, und dann bist du ein toter Mann!“
    All der angestaute Druck der letzten drei Monate, in denen er mit mir gemacht hatte, was er wollte, in denen er mich geschlagen hatte, wie es ihm gefiel, brach aus mir heraus. „Was bist du eigentlich?!“, schleuderte ich ihm entgegen, „ein mieses Stück Dreck.“
    |87| Aber dann sagte er etwas, was meinem Zorn sofort die Flamme nahm: „Wenn du es deinem Vater sagst, dann bringe ich euch alle um.“ Er zerdrückte einen Gegenstand in seiner Hand. „So. Siehst du das? Ich erwürge euch alle. Genau so.“
    Und dann kamen meine Eltern. Ich wollte und konnte das Zimmer nicht verlassen. Meine Schwägerin, die Frau meines älteren Bruders, kam zu mir, und als sie mich sah, schrie sie auf und rief: „Oh Gott, was ist denn mit dir passiert?“
    Ich habe es ihnen nicht gesagt. Meinem Vater schwor ich sogar auf den Koran, dass es nicht Refik gewesen sei, der mich so zugerichtet hatte. Zu große Angst hatte ich vor dem, was dieser Mann uns allen antun könnte. Und das, was viele Jahre später geschah, sollte beweisen, dass ich damals recht hatte.
    So ist das mit diesen Ehrengeschichten: Man hält den Mund. Die anderen wussten es ohnehin. Man konnte es an zwei Fingern abzählen, dass er es gewesen sein musste; wer auch sonst? Meine Lüge, ich sei im Badezimmer mit dem Gesicht auf eine Waschbeckenkante gefallen, war absurd. Aber solange ich nicht aussprach, was offensichtlich war, solange verschlossen alle anderen die Augen vor den Tatsachen. Auch in den fünf Jahren meiner Ehe, die die Hölle auf Erden waren, lag auf der Hand, dass sowohl ich als auch meine Tochter mindestens einmal die Woche, wenn nicht gar täglich, von ihm geprügelt wurden. Man konnte es sehen, wenn man es sehen wollte. Man brauchte nur die Augen aufzumachen und unsere Verletzungen als das sehen, was sie waren. Aber alle taten so, als ob nichts wäre.
    Damals, als mein frisch angetrauter Ehemann mir am Tag nach der Hochzeit das Auge kaputt geschlagen hatte, setzten wir uns in die Autos und fuhren nach Deutschland. Es war ein trauriger Abschied, auch Refiks Eltern waren entsetzlich bedrückt. Alle hatten Angst, was wohl passieren würde, ob mein Vater sich mit meiner Aussage zufriedengeben oder Refik unterwegs irgendwo am Straßenrand den Schädel einschlagen würde. Drei Tage lang saß ich in der Sommerhitze im Heck des Wagens meines älteren Bruders, ohne dass ein Arzt nach meinem Auge |88| gesehen hätte. Die Fahrt war die reinste Qual. Ich hatte schreckliche Angst, auf einem Auge blind zu werden. Meinem Mann war das egal.
    Die einzige Möglichkeit, die mir blieb, um diese ausweglose Situation zu ertragen, war für mich die Flucht in jenes andere Universum, in die Welt der Anwältin. Während dieser dreitägigen Fahrt saß zwar mein geschundener Körper in dem Auto, in dem türkische Musik lief und die anderen lachten und sich unterhielten, mein Geist aber befand sich in ganz anderen Dimensionen: Stundenlang hielt ich die Augen geschlossen und war einfach weg. In meiner Fantasiewelt war ich die Anwältin, besaß eine Aktentasche, die ich hütete wie mein Leben und nur zu ganz bestimmten Anlässen wie meine Geheimwaffe oder einen Talisman aus dem Schrank holte und mitnahm, wenn es wieder eine besondere Herausforderung zu bestehen gab. Während dieser Fahrt holte ich in meiner Fantasie die Aktentasche mehrmals hervor, und

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