Loewinnenherz
gesehen hatte, die mein Vater vom Gericht erhalten hatte. Freude durchströmte mich. Die Anwältin! Ich würde etwas lernen, was ihrem Leben nahe kam. Was auch immer es war, ich würde alles in mich aufsaugen. Ich würde es schaffen, auch ohne Abitur und ohne Mittlere Reife. Ich hatte die einmalige Chance, endlich aus meinem von Gewalt geprägten Hausfrauendasein auszubrechen. Doch dieser Gedanke führte mich zu einem unvermeidlichen Problem: Wie sollte ich Refik dazu bringen, dass er mich die Ausbildung machen lassen würde?
„Er wird es niemals erlauben“, dachte ich verzweifelt. Und wusste doch, dass ich es irgendwie schaffen würde. Ich
musste
es ganz einfach schaffen. Durch nichts auf der Welt würde ich mir diese Chance nehmen lassen.
|100| Ich lerne um mein Leben
Ich griff zu einer List und erzählte meinem Mann, dass ich die Umschulung allein des Geldes wegen machen wolle, das mir das Arbeitsamt währenddessen bezahlen würde. Außerdem erklärte ich ihm, dass ich wegen meines Nierenleidens keine körperliche Arbeit leisten könne, und dass schon allein meine Putzjobs unglaublich anstrengend für mich seien.
„Es wäre schon ganz gut für uns, wenn ich später mal einen Beruf ausüben könnte, bei dem ich in einem Büro sitzen kann und noch dazu mehr Geld verdiene.“ Wir hatten damals erhebliche Geldprobleme. Da wir auch seine Eltern in der Türkei finanziell unterstützten, gab er schließlich nach.
Auf gewisse Weise war er sogar stolz auf mich. Einmal hörte ich, wie er mit seiner Familie in der Türkei telefonierte und damit prahlte, dass seine Frau eine Ausbildung mache und dafür auch noch Geld bekomme. Es war also halbwegs in Ordnung, dass ich zur Schule ging. Auf keinen Fall aber sollte ich klüger werden, denn das war gefährlich. Und die Prüfung, darauf wollte er mich von Anfang an festnageln, die sollte ich gar nicht erst ablegen.
„Wenn es dir nur um das Umschulungsgeld geht“, sagte er, „dann brauchst du ja auch nicht zu lernen. Je weniger du lernst, desto besser.“
„Ganz im Gegenteil, du Blödmann“, dachte ich, sagte aber kein Wort.
Weil das Geld hinten und vorne nicht reichte, ging ich mit meiner Schwägerin weiter zweimal die Woche am Nachmittag putzen. Eines Tages war eine Sekretärin ausnahmsweise noch bei der Arbeit als wir kamen, und als ich sah, wie sie mit allen zehn Fingern unglaublich schnell auf ihrer Schreibmaschine tippte. Da vergaß ich alles andere, sodass meine Schwägerin mich an der Kittelschürze zupfte und flüsterte: „Şengül, was schaust du denn so, komm, mach deine Arbeit.“
Ich aber sagte: „Verdammt noch mal, Gülay, so wie diese Frau will ich auch Schreibmaschine schreiben lernen.“
|101| Sie lachte.
„Du bist vollkommen verrückt, meine Liebe, aber das weiß ich ja schon lange.“
Doch mich ließ das Bild dieser flink schreibenden Frau nicht mehr los. Das wollte ich auch können!
Ich fragte eine Ausbilderin in meiner Schule, wie man das hinkriegt.
„Was muss man machen“, fragte ich sie, „um mit zehn Fingern ganz schnell Schreibmaschine schreiben zu lernen, ohne hinzugucken?“
„Man muss üben“, sagte sie und musste lachen, als sie meine großen Augen sah. Und dann ging sie zu einem Schrank, holte ein dickes Heft hervor und reichte es mir.
„Wenn Sie diese Übungen jeden Tag eine Stunde lang machen“, sagte sie, „dann garantiere ich Ihnen, dass Sie in einem Jahr blind Schreibmaschine schreiben können.“
„So richtig schnell?“, wollte ich wissen.
Da lachte sie wieder.
„Kommt darauf an“, erwiderte sie, „wie fleißig Sie üben.“
„Dann brauche ich also eine Schreibmaschine“, sagte ich.
„Ja“, meinte sie, „eine Schreibmaschine brauchen Sie schon.“
Und so kaufte ich mir für hundert Mark eine gebrauchte Schreibmaschine und übte jeden Tag. Meinem Mann erklärte ich, dass ich die Einzige in der Familie sei, die ordentliches Deutsch könne und wenn alle wollten, dass ich für sie den Behörden-Kram erledigte, müsste ich unbedingt Schreibmaschine schreiben lernen. Und damit gab er sich zufrieden. Ich übte täglich und wurde immer besser. Und bemerkte außerdem, wie sehr es mich beruhigte, etwas zu lernen und zu üben, wie gut es mir tat, wie sehr es mein Selbstwertgefühl stärkte, etwas einmal ganz allein für mich zu tun.
Ich hatte ja so viel nachzuholen. War ich als Kind eine gute Schülerin gewesen, so kam es mir jetzt mit 21 so vor, als müsste ich wieder bei Null anfangen. Ich war dumm
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