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Loewinnenherz

Loewinnenherz

Titel: Loewinnenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Senguel Obinger
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gehalten worden. |102| Alles hatte ich vergessen. Aber ich war wie ein Schwamm und sog all das verlorene und das neue Wissen nur so in mich auf.
    Mein Alltag war alles andere als einfach. Bevor ich für Berna in Erlangen einen Kindergartenplatz bekam, musste ich im ersten halben Jahr meiner Ausbildung jeden Tag mit dem Bus in das dreißig Kilometer entfernte Nürnberg fahren, um Berna zu meiner Mutter und meiner Schwägerin zu bringen. Die Schule aber war in Erlangen, und darum musste ich dieselbe Strecke auch wieder zurückfahren. Der Unterricht ging bis sechzehn Uhr, und dann ging das Ganze wieder von vorne los. Ich hetzte mich ab, um rechtzeitig nach Hause zu kommen, damit das Essen pünktlich auf dem Tisch stand, um ja meinen Mann nicht zu erzürnen. Das ließ sich aber selten vermeiden, und so endeten die Tage meist mit Schlägen, Weinen und Geschrei. Ich achtete darauf, meine Tochter aus der Schusslinie zu halten und vor seiner Brutalität zu schützen, warf mich vor sie, flehte ihn an, mich zu schlagen und das Kind in Frieden zu lassen.
    „Du liebst Berna mehr als mich“, sagte er einmal in einer Mischung aus Verzweiflung und Wut. Ich denke, er hat mich auf seine kranke Art tatsächlich geliebt. Für ihn bedeutete Liebe, dass ich mich ihm unterwerfe, sein Eigentum bin, über das er frei verfügen kann. Und da er Schwierigkeiten hatte, sich zu artikulieren und mit Worten durchzusetzen, zeigte er seine vermeintliche Stärke gegenüber Berna und mir stets mit körperlicher Gewalt. In seiner Vorstellung von Partnerschaft hatten Werte wie Akzeptanz, Toleranz, Respekt und gegenseitige Stärkung keinen Platz. Dass er auf seine eigene Tochter eifersüchtig war, zeigt, dass er ein unsicherer Mann war, unfähig zu wirklicher Liebe.
    „Ja“, sagte ich damals, „ich liebe meine Tochter. Wenn du sie schon nicht liebst, dann lass sie doch wenigstens in Ruhe.“ Doch das tat er nicht, und wenn ich heute etwas aus tiefstem Herzen bereue, dann ist es, dass ich nicht früher in der Lage war, mich von diesem Mann zu befreien und es so lange hingenommen habe, dass unser unschuldiges Kind derart leiden musste. Es gab |103| Nächte, in denen ich aufstand, um nachzusehen, ob das kleine Mädchen in ihrem Bettchen überhaupt noch atmete.
    In diesen ersten Monaten meiner Ausbildung nahm Refiks Terror immer schlimmere Formen an. Wann immer er mich mit meinen Büchern antraf und mich dabei ertappte, dass ich tatsächlich lernte, schlug er mich und quälte mein Kind. Nach einem Vierteljahr war ich so verzweifelt, dass ich bereit war, alles hinzuschmeißen. Ich ging zu einer der Ausbilderinnen und erklärte ihr, dass ich aufgeben wollte. Da packte sie mich am Arm und schüttelte mich.
    „Şengül“, sagte sie, „du bist so gut, du hast unglaubliche Fortschritte gemacht. Diese Chance hier, die kommt nie wieder, hörst du? Gib jetzt nicht auf, bring es zu Ende. Ich weiß, dass du es schaffen kannst.“
    Und da gab ich mir einen Ruck. Sie hatte recht. Versuchen musste ich es jedenfalls. Ich dachte an die Anwältin, deren Bild mich seit so vielen Jahren begleitete. Sie hätte auch nicht aufgegeben. Und so ging ich nach Hause und erklärte Refik, dass ich gar nicht daran denken würde, die Ausbildung abzubrechen, dass er mich schon umbringen müsste, um zu verhindern, dass ich diesen Abschluss machte.
    Von da an ließ ich mir weniger gefallen und riskierte, dass die Situationen immer öfter eskalierten. Refik schlug mich ohnehin, ob ich mich bemühte oder nicht. Auf ein paar mehr Schläge kam es mir auch nicht mehr an. Wenn er anfing, dann hielt ich meistens ganz still und mein Geist ging auf Reisen. Einmal prügelte er mich so, dass ich eine Platzwunde am Kopf hatte, die genäht werden musste. Solche Wunden schmerzen erst am zweiten Tag so richtig, damit kenne ich mich aus. Also nahm ich ein Aspirin, legte mich ins Bett, und wartete, bis Refik neben mir eingeschlafen war und ich seine regelmäßigen Atemzüge hörte. Dann stand ich leise auf, schnappte meine Bücher und setzte mich ins Wohnzimmer zum Lernen. Und wenn er mich zuvor auf den Hinterkopf geschlagen hatte, was seine Spezialität war, damit man mir die Prellungen und blauen Flecken |104| nicht so ansah, dann führte ich, wie immer, wenn es mir nicht gut ging, Selbstgespräche. „Na, Şengül“, sagte ich, „hast du wieder eins auf den Kopf gekriegt, was? Dann kannst du jetzt umso besser denken.“ Ich lachte, versuchte, das alles mit Humor zu nehmen, innerlich sang ich vor

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