Lokale Erschuetterung
Ich hab die mit vierzehn kennengelernt, und als ich sechzehn war, durfte ich ihr das erste Mal ins Höschen fassen. Die war zwei Jahre älter als ich und |274| hat trotzdem so lange gewartet, bis ich in ihren Augen ein Mann war.
Und wieso bist du nicht mehr mit ihr zusammen?
Bosse schweigt und sieht das erste Mal aus, als sei ihm die fette blaue Wut nicht unbekannt. Mahlt ein bisschen mit den Zähnen und trommelt mit den Fingern ein böses Stakkato auf den Tisch.
Hanns winkt ab und steht auf. Ich muss gehen, hab morgen auch einen harten Tag vor mir.
Bosse nickt und bringt Hanns zur Tür.
Komm wieder, wenn du Lust hast. Musst dich nicht exponieren. Das bleibt unter uns, wenn du es willst.
Wieso liegt dir so daran? Hanns ist wirklich neugierig zu hören, warum einer wie Bosse jemanden wie ihn in seinem Redezirkel haben will. Ihr werdet die Welt nicht verändern. Nicht in Frankenburg und woanders auch nicht.
Man muss Geduld haben, Hanns, und die haben wir. Glaub mir, wir sind gar nicht so schlecht aufgestellt. Jedenfalls besser, als es den Eindruck macht. Wenn die ganzen Dumpfbacken erst mal weg sind und die Schläger diszipliniert, kann was aus uns werden.
Hanns nickt. Er zweifelt plötzlich nicht mehr daran, dass Bosse recht hat. Der macht was her, und Hanns muss sich eingestehen, dass er mit Bosse auch zum ersten Mal einen intellektuellen Rechten kennengelernt hat. Der ist schon ein anderes Kaliber als diese Is-was-Glatzen aus Marzahn.
Hast du jemals überlegt, dir das Wort Hass auf die Fingerknöchel tätowieren zu lassen?
Bosse lächelt.
Ja, schon. Aber einer wie ich, der keine siebzig Kilo auf die Waage bringt, sollte so was tunlichst lassen. Nichts ist blöder, als albern zu wirken.
Er schenkt Hanns ein kleines freundschaftliches Schulterklopfen und schließt die Tür.
|275| Frankenburg ist tot. Hanns läuft durch die nur spärlich beleuchteten Straßen nach Hause und stellt sich vor, wie er das ganze Kaff in Schutt und Asche legt. Mit dieser alten Panzerfaust, die er kurz nach der Wende einem russischen Soldaten abgekauft hatte. Nur aus Jux und Tollerei hatte er das getan. Der Russe war ihm in der Nähe von Brieselang beim Pilzesuchen über den Weg gelaufen. Sah gerupft und gedemütigt aus, hungrig und verrückt. Von dem hätte er alles kaufen können. Außer Langstreckenraketen vielleicht. Bei einem Preis von nur fünfzig Mark hat er sich dann für die Panzerfaust entschieden. Der Russe hatte angeboten, das Ding mit ihm zusammen im Wald auszuprobieren. Wollte beweisen, dass es sich hier um gute Friedensware handelt. Aber darauf ist Hanns nicht eingestiegen, das war ihm zu schräg, mit einem Russen zusammen im Wald rumzuballern. Jetzt liegt das Teil in Berlin im Keller. Er könnte Vroni bitten, es ins Auto zu packen und herzubringen. Nach Frankenburg. Für eine kleine Abschiedsvorstellung.
Hanns läuft durch die dunklen Straßen und summt vor sich hin.
Grüß dich, Genosse Mauser
, summt er und überlegt, ob er noch irgendwo die alten Platten von Ernst Busch liegen hat.
Grüß dich, Genosse Mauser.
Nachts ist seine Wut auf dieses Kaff am größten. Wenn er in der Wohnung am Fenster steht und auf die leere Straße schaut, kann er es kaum fassen, dass er hier gelandet ist. Hanns glaubt auch nicht mehr daran, hier jemals wieder wegzukommen. Es sei denn, er schaffte ganz schnell den Absprung. Denn es muss ihn geben, diesen Gewöhnungseffekt. Sonst lebten nicht so viele Menschen hier. Hanns hat inzwischen schon eine Menge Leute getroffen, die ihm zu erklären versucht hatten, warum sie sogar gern hier leben. Und dass sie sich nach Hause sehnen, sind sie mal für einige Zeit in der Fremde. Da genüge |276| schon ein zweiwöchiger Urlaub, hatte erst vor kurzem so ein Chorbruder gesagt. Um die Sehnsucht entstehen zu lassen. Und wenn er dann mit dem Auto nach Frankenburg hineinführe, empfinde er ein großes Glücksgefühl. So ist das mit der Heimat, hatte der Chorbruder zum Schluss gesagt. Sie bleibt das Schönste von allem.
Dem Mann mussten die ganzen Volkslieder völlig das Hirn weich gemacht haben. Hatte Hanns nach dem Gespräch gedacht und den Chorbruder doch brav in der Zeitung zitiert.
Auf dem Marktplatz setzt er sich an den Brunnen, lehnt seinen Rücken an den kühlen Stein und spürt das unebene Pflaster unter seinem Hintern. Genau hier hatte der Anwalt gesessen und sich den Kopf weggeblasen. Später haben die Leute behauptet, der Selbstmörder habe zuvor noch alle Papiere aus seinem Büro
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