Lola Bensky
ihr Loft herab, dachte Lola. Wollte sie es vermeiden, reich zu erscheinen? Mick Jaggers Vermögen, hatte sie gehört, wurde auf über dreihundert Millionen Dollar geschätzt. Warum war es ihr peinlich, ein Loft in SoHo zu besitzen, das sie gekauft hatten, als SoHo bei weitem noch nicht so chic war und noch nicht vor Designerläden überquoll?
Mick Jagger sah Lola scharf an und runzelte kaum merklich die Stirn. Lola vermutete, dass er sich fragte, wer oder was Schlomo war.
»Sind Sie Australierin?«, fragte Mick Jagger.
»Ja«, sagte sie. »Aber ich lebe schon seit über zwanzig Jahren hier.«
»Sie ist auch in Australien sehr bekannt«, sagte Phyllis-Elissa. Phyllis-Elissa, dachte Lola, war noch schlimmer als Edek. Edek, der seit über einem Jahrzehnt in New York lebte, erzählte jedem, den er traf, seine Tochter sei eine berühmte Schriftstellerin. Falls der Angesprochene dann verständnislos dreinschaute, schloss Edek daraus, dass er dumm war.
Edek war dreiundneunzig und lebte immer noch allein in einer Wohnung an der Lower Eastside. Er liebte seine Wohnung, er liebte New York, er liebte die New Yorker Hotdogs und die heiße Schokolade. Und er war glücklich. Edek war glücklicher, als Lola es je bei ihm erlebt hatte. Er war fast immer gut gelaunt, und wenn Lola ihn fragte, wie es ihm ging, antwortete er immer: »Mir geht es Gold.«
Lola und Edek trafen sich zwei oder drei Mal in der Woche im Caffé Dante in der MacDougal Street. Lola bestellte einen Kamillentee mit Zitrone, und Edek nahm zwei Kugeln Schokoladeneis und zwei Tassen heiße Schokolade.
Lola verstand nicht, wo Edeks Ruhe herrührte. Sie hatte
sich im Alter von ungefähr fünfundachtzig eingestellt. Lola war froh, dass Edek lange genug lebte, um seinen inneren Frieden gefunden zu haben. Und glücklich zu sein. Sie fragte sich, ob auch Renia allmählich besänftigt worden wäre, wenn sie dieses Alter erreicht hätte. Wahrscheinlich nicht, dachte Lola. Sie konnte sich Renia nicht mit fünfundachtzig vorstellen. Sie konnte sich Renia nicht ohne ihre hohen Absätze, ihre straffen Schenkel, ihre trägerlosen BHs und die getuschten Wimpern vorstellen. Und ganz sicher konnte sie sich Renia nicht ruhig vorstellen. Ruhig wäre Renia eine andere gewesen. Sie wäre nicht mehr Renia gewesen.
»Sie sind in Australien aufgewachsen, nicht wahr?«, sagte Mick Jagger zu Lola.
»Ich habe dort gelebt, seit ich zwei war und bis ich zweiundvierzig wurde«, sagte sie.
»Du gibst dein Alter preis«, sagte Phyllis-Elissa.
»Ich bin dreiundsechzig«, sagte Lola.
»Ich bin sogar noch älter«, sagte Mick Jagger.
»Du siehst fabelhaft aus«, sagte Phyllis-Elissa zu Mick Jagger.
Lola fand, dass Mick Jagger immer noch so aussah, als ließe ihm irgendetwas keine Ruhe. Wahrscheinlich war er immer noch verwirrt wegen Schlomo, dachte sie. Er konnte Lola unmöglich erkannt oder sich an das Zusammentreffen mit ihr erinnert haben. Er musste in seinem Leben Tausenden von Menschen begegnet sein. Außerdem war Lola nur noch halb so dick und dreimal so alt wie damals. Phyllis-Elissa nahm Mick Jagger am Arm. »Du musst Schlomo in SoHo lesen«, hörte Lola sie sagen, als sie ihn fortführte.
Lolas Mobiltelefon piepste. Sie nahm es aus der Tasche. Es war eine SMS von Edek. Ich habe gekauft eine Sonnenbrille. Für dich. Sie ist sehr gut. Dad. Lola fürchtete sich davor, die
Sonnenbrille in Augenschein zu nehmen. Sie wusste, dass Edek sie nicht gekauft hätte, wenn es sich nicht um ein ganz besonderes Schnäppchen gehandelt hätte. Zum Beispiel zwei Brillen für einen Dollar. Edek liebte Schnäppchen.
Keine Minute später kam eine weitere Textnachricht von Edek. Ich habe mir gekauft auch eine. Edek konnte SMS senden, mailen und skypen. Er konnte Anhänge verschicken, Fotos ausdrucken und sich im Netz Informationen beschaffen. Manchmal trieb er Lola damit zum Wahnsinn. Er schickte ihr Pläne, wie sie über Nacht reich werden konnte, und erkundigte sich manchmal täglich nach den Verkaufszahlen ihrer Bücher.
Das Internet mit all seinen Möglichkeiten faszinierte Edek genauso, wie ihn früher die Zauberer, Hypnotiseure, Komiker und Stripperinnen im Tivoli Theatre in Melbourne fasziniert hatten. Die Tatsache, dass Edek Wörter falsch buchstabieren und dennoch von seinem Computer verstanden werden konnte, begeisterte ihn über alle Maßen. Vor kurzem hatte er Lola hochrot vor Entzücken erzählt, dass er Skype für ein echtes Wunder hielt. Lola hatte keine Ahnung, mit wem Edek skypte.
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