Lola Bensky
-fische stammen aus Kaltwassermeeren wie dem Atlantik oder der Arktis und Warmwasserkrustentiere und -fische aus Warmwassermeeren wie dem Pazifik oder dem Indischen Ozean.«
Lola war verblüfft. Erstens hatte sie nicht gewusst, dass es Kaltwasser- und Warmwassermeere gab. Dabei handelte es sich um eine Information, von der sie das Gefühl hatte, dass man es mit dreiundsechzig langsam geschafft haben müsste, sie sich anzueignen. Und zweitens kannte dieser Kellner seinen Fisch. Vor zehn Jahren hätte kaum ein Kellner oder sonstiges Personal aus der Lebensmittelbranche einem etwas über ein Gericht und dessen Zusammensetzung sagen können. Mittlerweile hatte jede Zutat, jedes Kräutlein und Gewürz seinen eigenen Stammbaum, seine eigene Herkunft und Geschichte. Inzwischen interessierten sich nicht mehr nur Leute dafür, die beruflich mit Essen zu tun hatten. Ganz normale Menschen wurden zu Kulinarikexperten. Gutes Essen erlebte seinen großen Moment. Gutes Essen war der neue Aktienmarkt.
Vor fünfzehn Jahren unterhielt man sich über seinen Therapeuten. Vor zehn Jahren über Internet-Start-ups. Und dann kam das Essen an die Reihe. In jedem zweiten Satz tauchten kulinarische Begriffe auf. Begriffe wie sous-vide, semifreddo, Jus, glacieren oder Confit. Es genügte nicht mehr, vom Mittag- oder Abendessen zu sprechen. Es musste schon Hühnchensalat au jus, Lamm sous-vide oder eine deglacierte Schweineschulter sein.
Wie sich das Themenspektrum so verschieben konnte, von der Frage der psychologischen Bedeutung dreier verpasster Therapiesitzungen zu der Frage der genauen Garmethode eines Hühnchens, war Lola ein wenig rätselhaft. Kulinarische Kenntnisse verschafften einem das soziale Prestige eines Gehirnchirurgen. Oder vielleicht nicht ganz. New Yorker hielten viel von medizinischen Spezialisten.
Der Kellner mit dem Hummer und den Krabbenküchlein kam wieder bei Lola vorbei. Lola nahm sich den letzten Maine-Hummer und noch ein Krabbenküchlein mit japanischer Panko-Panade. »Sie wissen sehr viel über Shrimps«, sagte Lola zu dem Kellner.
Lola war bei einem Wohltätigkeitsessen für die New York Public Library oder das New York City Ballet oder irgendeine andere New Yorker Kulturinstitution an der Upper East Side. Sie wusste es nicht mehr genau. Das Abendessen fand in der Wohnung von Phyllis-Elissa und Elwood Earlwood statt, die mehrere von Mr. Someone Elses Gemälden besaßen. Sie waren bedeutende Kunstsammler.
Phyllis-Elissa wurde nie einfach nur Phyllis genannt, sondern immer Phyllis-Elissa. Lola, die eine angeborene, irrationale Abneigung gegen sehr reiche Leute hatte, mochte Phyllis-Elissa ganz gern. Phyllis-Elissa strahlte Wärme aus. Sie war selbstbewusst und direkt. Und sie war dick. Nicht wahn
sinnig dick. Aber dick. In sehr wohlhabenden Kreisen war es ungewöhnlich für eine Frau, dick zu sein. In der Welt der Superreichen waren dicke Frauen unterrepräsentiert. Es gab ziemlich viele superreiche dicke Männer, aber nur sehr wenige superreiche dicke Frauen.
Phyllis-Elissa schien es nichts auszumachen, dick zu sein. Sie versuchte nicht, schmeichelhaftere Kleidung zu tragen. Ihre Knöpfe spannten häufig, und ihre Kleidung wirkte zu eng. An diesem Abend trug sie ein schwarzes, perlenbesetztes Vintage-Kleid aus den vierziger Jahren. Ihr Busen quoll beinahe zwischen den schimmernden, quarzähnlichen Knöpfen hervor. Die Zellulitis an Phyllis-Elissas Oberschenkeln und Hüften zeichnete sich durch den Seidenstoff ihres Kleides ab. Lola bewunderte Phyllis-Elissa dafür, dass sie sich in ihrem Körper offenbar so wohl fühlte, dass sie ihn ohne stützende Unterwäsche oder andere Schlankheitstricks zur Schau stellte.
Phyllis-Elissas und Elwood Earlwoods Wohnung an der Fifth Avenue war sehr schön, fand Lola. Sie schien in den 1920er Jahren gebaut worden zu sein und war sehr groß. Eines der Wohnzimmer, das auf die Fifth Avenue hinausging, war mindestens fünfzehn Meter lang. Doch trotz der Größe des Raumes und der drei Picassos und zwei Dalís sowie mehrerer de Koonings und Rothkos an den Wänden wirkte das Zimmer bewohnt und behaglich. Die Bibliothek, in der große, üppig gepolsterte Sofas und Lehnsessel standen und eine ganze Wand von einer Serie Matisse-Radierungen eingenommen wurde, hatte die Gemütlichkeit eines ganz gewöhnlichen Wohnzimmers. Außerdem gab es ungefähr sechs oder sieben Badezimmer. Lola, die eine Menge Sprudel getrunken hatte, hatte schon drei davon benutzt.
Lola schätzte, dass ungefähr
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