Lola Bensky
schwer abzuschütteln war. Selbst wenn Mrs. Gorgeous sie anstrahlte.
Nach dem Frühstück fuhr Lola ihren Sohn zur Schule, ungeachtet all seiner Beteuerungen, dass er genug von der Schule habe, sich langweile und nicht mehr hingehen wolle. Dann brachte sie Mrs. Gorgeous zur Tagesstätte und fuhr in ihr Büro. Lola träumte beim Fahren oft vor sich hin.
Sie träumte von Autounfällen. Sie stellte sich eine Szene kurz nach einem schrecklichen Zusammenstoß vor. Den eigentlichen Zusammenstoß sah sie in ihren Tagträumen nie, sie setzten erst eine halbe Minute nach der Kollision ein, mit dem Chaos danach. Überall Blut, geborstene Windschutzscheiben, zerquetschte Autotüren und Kühlerhauben, eingedrückte Wagendächer und zersplittertes Glas.
Immer war der oder die Verletzte jemand, den Lola kannte. In diesen Fantasien fuhr Lola an den Straßenrand, griff im Handschuhfach nach dem Erste-Hilfe-Kasten und eilte zu Hilfe. Sie räumte Glas beiseite, stillte Blutungen, verband Wunden, zog das Opfer behutsam aus dem Wrack und versicherte ihm, dass alles gut werden würde.
Später wurden die Angehörigen des Unfallopfers von ihrer Dankbarkeit gegenüber Lola übermannt. Sie weinten und sagten: »Gott sei Dank, dass Lola da war.« Wenn sie wohl
habend waren, boten sie Lola häufig Geld an, um ihre Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen. Obwohl Lola das Geld gut hätte gebrauchen können – Mr. Ex-Rockstar war inzwischen Beamter und arbeitete als Buchhalter –, sagte sie jedes Mal nein.
Viele Jahre später würde Lola ein Buch über die Kinder Überlebender lesen, die glaubten, kein Recht auf ein eigenes Leben zu haben, bevor sie nicht in die psychotische, chaotische Welt des Konzentrationslagers zurückgekehrt waren und ihre Eltern gerettet hatten. Lola hatte dies sofort mit ihren Fantasien über die Rettung von Unfallopfern in Verbindung gebracht. Fantasien, die Tausende von Stunden ihres Lebens in Anspruch nahmen.
Aus dem Buch No Voice Is Ever Wholly Lost der Psychoanalytikerin Louise J. Kaplan erfuhr Lola, dass das Bedürfnis, die Vergangenheit ihrer Eltern nachzustellen oder in ihr zu leben, für die Kinder von Überlebenden aus den Vernichtungslagern ein wichtiges Thema war. Auf diese Weise verwandelten sie Demütigung, Schande und Schuld ihrer Eltern in einen Sieg über deren Unterdrücker. Lola staunte, als sie das las. Es passte perfekt zu ihren Fantasien über Autounfälle.
Lolas Tagträume und Fantasien über Autounfälle begannen für sie mit dem gleichen Gefühl nervöser Erwartung, mit dem andere ins Kino gingen. Filme langweilten Lola. Sie hockte in endlosen Ingmar-Bergman-Melodramen und sehnte ihr Ende herbei. Sie langweilte sich in Jules und Jim und fiel gegen Ende von Mary Poppins beinahe ins Koma. Aus ihren Fantasien über Autounfälle dagegen tauchte Lola erfrischt, zufrieden und siegreich auf. In keiner einzigen dieser tragischen Fantasien trug sie nicht den Triumph davon.
Lola kannte auch das Gefühl, sich das Recht auf ein eigenes Leben abzusprechen. Sie kam sich häufig wie eine Betrü
gerin vor. Wie jemand, der nur vorgab, ein echtes Mitglied der Familie Bensky zu sein. Die echten Familienmitglieder waren natürlich die Toten und alle, die mit den Toten gelitten hatten. Selbst als sie mit Renia und Edek in einem einzigen Zimmer gewohnt hatte, war Lola sich wie ein verwöhntes, reiches Mädchen vorgekommen. Sie empfand ihr Leben als zu leicht. Später würde sie viel Zeit mit dem Versuch verbringen, das richtigzustellen. Sie würde dafür sorgen, dass sie kein leichtes Leben hatte, ohne zu wissen, was sie da tat. Wenn sie es nur gewusst hätte.
Lola hatte keine Ahnung, dass sie mit doppelter Naht an die Toten gebunden war. Dass ein unsichtbarer Faden sie miteinander verband. Und dass sie allmählich begann, ihr Gewicht zu spüren.
Sie wusste nicht, dass sie bald ihre erste Panikattacke erleben würde. Es begann aus heiterem Himmel, an einem sonnigen Tag, als sie ihren Sohn und dessen Freund von der Schule abholte. Sie bog gerade in die Toorak Road ein, eine der breiten, von Geschäften gesäumten Straßen, die sich durch mehrere wohlhabende Melbourner Vororte zogen. Mütter waren mit ihren Kindern beim Einkaufen, Hundebesitzer führten ihre Hunde spazieren, die Bürgersteige vor den Cafés waren voller plaudernder Menschen, die das Frühlingswetter genossen, als sich plötzlich alles um sie zu drehen begann und Lola der Schweiß ausbrach. Sie umklammerte das Lenkrad. Ihr war schwindelig, sie
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