Lola Bensky
ein klein wenig zu steif dafür. So unbehaglich, wie sie dastanden und sich mit ihren besten Freunden unterhielten, konnte sich Lola kaum vorstellen, wie sie übereinander herfielen und sich die guten Sachen ruinierten. Oder wie sie mit den Folgen eines solchen Übereinanderherfallens zurechtkommen würden. Mit den Flecken, die aufgewischt und abgewaschen werden mussten. Mit den spontanen und unberechenbaren Lauten und Geräuschen, die eine nicht umfassend geplante Begegnung möglicherweise mit sich brachte. Vielleicht waren ihre Affären einfach höflicher, beherrschter und manierlicher. Vielleicht waren sie glücklich in ihrem geteilten Unbehagen.
Lolas Eltern, die jetzt miteinander tanzten, hatten beschlossen, den Teil der Hochzeit zu überspringen, in dem die Braut und der Bräutigam auf Stühlen hochgehoben und durch den Saal getragen wurden, häufig zu einer weiteren Runde von »Chossn Kalah Mazel Tov«.
Lola hatte gehört, wie Edek und Renia darüber diskutierten. »Sie ist zu dick, als dass jemand sie auf einem Stuhl hochheben könnte«, hatte Renia Bensky gesagt. »Es ist nicht eine Person, die den Stuhl hebt, es sind vier Personen, die den Stuhl anheben«, hatte Edek geantwortet. »Sie ist zu dick für vier«, hatte Renia gesagt. Nach ein paar Minuten hatte
Lola Edek sagen hören: »Mr. Kirschbaums Sohn war sehr dick, und sie haben ihn auf dem Stuhl hochgehoben.«
»Sie ist zu dick«, hatte Renia geantwortet und war aus dem Zimmer gegangen. Lola war es egal. Sie mochte keine Höhen. In der Höhe wurde ihr schlecht.
Lolas Thunfischsalat war fertig. Im Haus war es still. Nicht einmal ihre einjährige Tochter war schon wach. Lola fühlte sich nicht wie dreißig. Doch woher sollte sie wissen, wie dreißig sich anfühlte? Sie wusste, dass sie immer noch beide Eltern hatte. Und dieser Gedanke war seltsam erhebend.
Sie aß eine kleine Portion Salat. Es war wirklich kein tolles Frühstück. Aber ballaststoffreich. Sie ging ins Bad und setzte sich auf die Toilette. Lola liebte es, in Ruhe auf der Toilette zu sitzen. Sie dachte, dass sie das von Edek geerbt hatte, der immer prüfte, bevor er auf die Toilette ging, ob nicht ein anderer sie benutzen wollte. »Ich sitze dort gerne in Ruhe«, sagte er immer. Manchmal fügte Edek noch hinzu: »Sogar die Königin von England hat auf der Toilette ihre Ruhe.« Das war die einzige Bemerkung über die englische Königin, die er jemals machte. Lola war nicht klar gewesen, dass ihre Eltern von der Existenz der englischen Königin wussten, ganz zu schweigen von der Ruhe, die sie empfand, wenn sie auf der Toilette saß.
Es war nicht einfach, in Ruhe auf der Toilette zu sitzen, wenn man Kinder hatte, das war Lola klar geworden. Ihr sechsjähriger Sohn leistete ihr gerne dabei Gesellschaft. Er nutzte die Zeit, um ihr endlose Fragen zu stellen, zum Beispiel wohin die Tampons verschwanden, die sie benutzte, wenn sie ihre Periode hatte. Es war schwierig, dazusitzen und sich zu konzentrieren, wenn ein Sechsjähriger einen bat, ihm zu zeigen, wohin die Tampons verschwanden.
Lola, genauso wie Edek und möglicherweise die Königin von England, liebte es, in Ruhe auf der Toilette zu sitzen. Die Ruhe ermöglichte, dass alles so funktionierte, wie es funktionieren sollte. Sie stellte sich ihren Schließmuskel vor, der ihren Analkanal instruierte, ihren Anus zu entspannen und zu öffnen. Sie dachte an die Muskeln im Dickdarm, die sich zusammenzogen und wieder entspannten, während sie die aufgenommene Nahrung, in Lolas Fall eine Menge Kohl, Karotten, Radieschen und Zucchini, wie Kleidung in einer Waschmaschine hin- und herwälzten und die Nahrung dabei unablässig aufbrachen und ihr das Wasser entzogen. Sie wusste, dass im Dickdarm mehrmals täglich, meist nach den Mahlzeiten, starke Muskelkontraktionen stattfanden, die den frischen Kot in den Enddarm transportierten. Wenn der Kot den Enddarm erreichte, schickte er eine Nachricht an die Nervenzentren in der Wirbelsäule, und diese wiederum schickten eine Nachricht an die Schließmuskulatur des Analkanals, um ihm mitzuteilen, er solle den Anus entspannen und öffnen. Falls das Öffnen des Anus gerade ungelegen kam, sandte das Gehirn eine Nachricht an die Wirbelsäule, um zu verhindern, dass der Befehl zum Öffnen abgeschickt wurde.
Lola war von diesem Kommunikationssystem überwältigt. Sämtliche Körperteile sprachen die gleiche Sprache. Anders als ihre Familie. Renia, Edek und Lola hatten nie die gleiche Sprache gesprochen. Renia
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