Lola Bensky
hatte das Gefühl, als würde sie gleich ohnmächtig.
Ihr achtjähriger Sohn saß mit seinem Schulfreund auf dem Rücksitz. Die zweijährige Mrs. Gorgeous war zu Hause mit dem Babysitter. Lola kurbelte das Fenster hinunter und versuchte, tief durchzuatmen. Sie hatte keine Ahnung, was ihr da gerade widerfuhr. Doch was immer es war, sie wusste,
es war nicht gut. Der Verkehr nach Schulschluss war dicht. Lola fuhr, den Kopf halb aus dem Autofenster gestreckt, mit pochendem Herzen. Sie brachte den Freund ihres Sohnes nach Hause und schaffte es, heimzufahren.
Sie suchte drei Neurologen auf und ließ ihren Kopf vermessen, betasten und durchleuchten. Sie wurde auf Tumore, Hirnschläge und Infektionskrankheiten untersucht, aber es konnte nichts festgestellt werden. Sie ging wieder zu ihrem Analytiker, den sie später als ihren ersten Analytiker bezeichnen würde. »Eine Panikattacke«, sagte der. »Ein plötzliches, überwältigendes Gefühl akuter, lähmender Angst.«
Mit fünfundzwanzig war Lola zum ersten Mal bei Dr. Silver gewesen. Sie hatte geglaubt, sie ginge zu einem Schlankheitsarzt. Vier Jahre lang legte sie sich zweimal in der Woche auf Dr. Silvers Couch. In ihrem ersten Jahr bei ihm nahm sie zehn Kilo zu.
Einige Jahre später, als Lola Ende dreißig war, würde ihr zweiter Analytiker ihr nahelegen, dass die Panikattacken möglicherweise von ihrem Bedürfnis hervorgerufen wurden, sich selbst zu bestrafen, weil sie bekommen hatte, was sie wollte. Tatsächlich hatte sich Lola, als sie mit Mrs. Gorgeous schwanger wurde, ein Mädchen gewünscht. Nach der Geburt, einem Kaiserschnitt unter Vollnarkose, erzählte Lolas Frauenarzt, habe sie wieder und wieder gesagt: »Eine Glückliche hat ein Mädchen bekommen.« Ganz egal, wie oft er oder die Krankenschwestern sie darauf hingewiesen hätten, sie selbst habe dieses Mädchen bekommen, habe Lola immerfort wiederholt: »Eine Glückliche hat ein Mädchen bekommen.« Als Lola ihren dritten Analytiker aufsuchte, hatte sie verstanden, dass es nicht ganz einfach war, mit dem Gefühl zu leben, Glück zu haben.
Die Panikattacken trafen Lola jedes Mal überraschend. Sie konnten im Supermarkt passieren, auf der Straße, im Auto.
Sie versuchte, so wenig wie möglich Auto zu fahren, was in einer Stadt wie Melbourne nicht ganz einfach war. Sie stellte eine Teilzeitassistentin ein, um nicht allein im Büro zu sein. Und schluckte eine halbe Valium, wenn sie ein Interview führen musste.
Jahrelang war sie gut allein klargekommen: spätabends im Büro, auf unübersichtlichen Flughäfen, bei langen Autofahrten. Jetzt wollte sie immer jemanden an ihrer Seite haben.
Lola kannte niemanden sonst, der Panikattacken hatte. Sie hatte vorher gar nicht gewusst, was das war. Es gab so vieles, was Lola nicht wusste. Sie wusste wirklich sehr wenig darüber, was es bedeutete, jüdisch zu sein. Von den meisten jüdischen Feiertagen wusste sie nicht, was sie bedeuteten. Sie wusste nichts über diese Religion. Sie verstand kein Wort Hebräisch. Obwohl sie Jüdin war, durfte Lola keiner der beiden jüdischen Jugendorganisationen beitreten, denen die meisten jüdischen Teenager Melbournes angehörten. Sie durfte nicht in die Synagoge gehen. An Jom Kippur, dem Tag der Versöhnung, dem höchsten Feiertag des jüdischen Kalenders, an dem die Juden fasten und weder Auto fahren noch irgendetwas arbeiten sollen, fuhr Edek an der Synagoge vorbei und wedelte mit einem Schinkensandwich. »Ihr Heuchler«, sagte er laut vor sich hin. »Zu wem betet ihr?«
Renia und Edek waren wütend auf Gott. Auf die Deutschen waren sie nicht wirklich wütend. Sie waren bestürzt über die vielen Polen, die mehr als froh zu sein schienen, ihre Juden loszuwerden. Doch auf Gott waren sie wirklich wütend. Beide bestanden sie darauf, dass Gott nicht existierte. Und beide waren sie zornig auf ihn. Ihr Leben lang würde Lola sich wie eine Abtrünnige vorkommen, sobald sie eine Synagoge betrat. In den Synagogen wiederum würde sie sich wie ein Eindringling, eine Außenseiterin, eine Fremde vor
kommen. Sie würde das Gefühl haben, keine echte Jüdin zu sein.
Immer wieder wurde Lola vorgehalten, wie wichtig es sei, einen jüdischen Jungen zu heiraten. Wo sie aber einen kennenlernen sollte, darüber wurde nie gesprochen. Sollte sie sich Harry Mendel angeln, den Sohn von Renias und Edeks Freunden Mr. und Mrs. Mendel? Als Lola dreizehn war, sagte Harry zu ihr, wenn sie abnähme, würde er es sich vielleicht überlegen, ihr Freund zu
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