Lola Bensky
und Edek sprachen Polnisch und Jiddisch. Auch ihr Deutsch war recht gut. Ihr Englisch war jahrelang nicht existent, und auch später sprachen sie es noch unbeholfen.
Als sie in Deutschland lebten, wo Lola geboren wurde, sprachen sie Deutsch miteinander. Doch sobald sie in Australien ankamen, bestanden Renia und Edek darauf, dass Lola nur noch Englisch sprach. Und auch sie sprachen nur noch Englisch
mit Lola. Das bedeutete, dass Renia und Edek drei Viertel von dem, was Lola sagte, nicht verstanden. Und Lola hatte meist keine Ahnung, was Edek und Renia zu sagen versuchten.
Edek und Renia sprachen entweder Polnisch oder Jiddisch miteinander. Glücklicherweise verstand Lola Jiddisch, doch sie konnte nie am Gespräch teilhaben. Sobald Lola auch nur ein jiddisches Wort sagte, fuhr Renia sie an: »Auf Englisch bitte.«
Renias und Edeks Englisch war voller zusammengeflickter und frei erfundener Wörter. Edek bezeichnete Kot als »Grosstük«. Ungefähr bis zu ihrem zwanzigsten Lebensjahr hatte Lola geglaubt, »Grosstük« hieße Kot auf Polnisch, bis sie begriff, dass Edek eigentlich »große Stücke« meinte. Lola fühlte sich elend. Wenn sie drei nur dieselbe Sprache sprächen, dann hätten Verwirrung, Verzweiflung, Entsetzen und Unsicherheit weniger Raum.
Renia und Edek hatten nie die Möglichkeit gehabt, vernünftig Englisch zu lernen. Bereits drei Tage nach ihrer Ankunft in Australien arbeiteten sie beide in einer Fabrik. Der einzige Mensch, der in diesen Fabriken Englisch sprach, war der Besitzer, und der unterhielt sich nicht mit Arbeitern wie Renia und Edek. In den Fabriken hatten Renia und Edek italienische, griechische, maltesische und chinesische Brocken aufgeschnappt.
Es war sieben Uhr morgens. Lola wusste, dass ihr Sohn, der bald sieben wurde, demnächst aufstehen würde. Er schlief nie lange. Er war ein bisschen wie sie. Immer auf der Hut. Lola konnte ihre einjährige Tochter in ihrem Bettchen vor sich hin plappern hören. Sie ging zu ihr ins Zimmer. Ein kleines Mädchen mit einem dichten Schopf rotblonder Locken strahlte zu ihr auf. »Guten Morgen, Mrs. Gorgeous«, sagte Lola zu ihrer Tochter.
Mrs. Gorgeous sah tatsächlich wunderhübsch aus. Sie hat
te sehr helle Haut und große, kornblumenblaue Augen. Lola liebte Mrs. Gorgeous' Augenfarbe. In dem Blau lag eine Ahnung von Himmel und Meer. Eine Ahnung, die Glück verhieß. Nicht nur Lola liebte Mrs. Gorgeous' Augenfarbe. Alle Juden schienen verrückt zu sein nach blauen Augen. »Schau mal, was für blaue Augen sie hat«, sagten Passanten, wenn Lola Mrs. Gorgeous in St. Kilda im Kinderwagen über die Acland Street schob.
Als Renia Mrs. Gorgeous, ein paar Stunden nachdem Lola sie zur Welt gebracht hatte, im Krankenhaus zum ersten Mal sah, wurde sie kreidebleich. Sämtliche Farbe wich aus ihrem Gesicht. »Sie sieht genauso aus wie Hanka«, sagte Renia, bevor sie aus dem Zimmer stürzte. Hanka war die Tochter von Bluma, Renias Lieblingsschwester. Als Renia und Edek im Ghetto keine Arbeitspapiere mehr gehabt hatten und sich versteckten, hatte die neunjährige Hanka, die immer noch arbeitete, ihnen jeden Tag ihre Suppe gebracht.
Hanka und Bluma waren mit Renia und Edek auf dem letzten Transport, der aus dem Ghetto von Lodz nach Auschwitz führte. Renia, die bei der Ankunft auf dem Bahnsteig in die Schlange der zum Leben Bestimmten gestoßen wurde, hatte versucht, Hanka an sich zu ziehen. Doch Bluma, die, auch wenn sie es nicht wusste, auf dem Weg in die Gaskammer war, drückte Hanka fest an sich.
Mrs. Gorgeous war ein fröhliches Kind. Sie lächelte viel. Lola hoffte, dass Mrs. Gorgeous sich diese Fröhlichkeit bewahren würde. Lola wusste, dass einem die Fröhlichkeit leicht abhandenkommen konnte. Die wenigen Menschen, die Lola schon im Lager für Displaced Persons und kurz nach ihrer Ankunft in Australien mit drei Jahren gekannt hatten, sagten ihr immer wieder, was für ein liebenswertes, freundliches, fröhliches Kind sie gewesen sei.
Lola glaubte nicht, dass irgendeiner ihrer heutigen Bekannten auf die Idee käme, sie als fröhlich zu beschreiben. Wie hatte sie ihre Fröhlichkeit verloren, fragte sich Lola. Wohin war sie entschwunden? Gab es auf der Welt nur einen begrenzten Vorrat davon? Vielleicht musste man auf seine Fröhlichkeit gut achtgeben, damit sie nicht plötzlich verschwand.
Nicht dass Lola mürrisch gewesen wäre. Das war sie nicht. Sie lachte viel und fand vieles sehr komisch. Sie hatte nur etwas Trauriges an sich. Eine Trauer, die nur
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