Lola Bensky
passten, das sie auf der Acland Street kaufte. Sie servierte zum Beispiel Hühnerleberpaté, einen Frischkäseaufstrich mit gehackten Radieschen und Frühlingszwiebeln und etwas hauchdünn geschnittene, frisch gekochte Zunge mit schwarzem Pfeffer.
Mr. Ex-Rockstar liebte Renias Essen. Und sie aßen mindestens einmal in der Woche bei ihren Eltern. Mr. Ex-Rock
star konnte nicht kochen, aber er buk gerne. Am liebsten Shortbread. Mit Feuereifer übte er die Herstellung des perfekten Shortbread. Wenn Lola lange arbeitete, fand sie beim Nachhausekommen mehrere Bleche mit heißem Shortbread vor, frisch aus dem Backofen. Das Geheimnis des perfekten Shortbread lag offenbar in der Qualität der Butter. Man musste unbedingt sehr, sehr gute Butter verwenden. Lolas Kühlschrank war ständig mit heimischer und importierter Butter gefüllt. Shortbread enthielt hundert Gramm Butter auf fünfzig Gramm Zucker und zweihundert Gramm Mehl. Für Lolas Diät war das nicht günstig. Es war eine Katastrophe.
Als Lola beschloss, Mr. Ex-Rockstar zu verlassen, erzählte sie es Renia und Edek, kurz nachdem sie es Mr. Ex-Rockstar gesagt hatte. Lola hatte nicht erwartet, dass Renia und Edek die Nachricht gut aufnehmen würden. Sie hatte sich davor gefürchtet, es ihnen zu erzählen. Doch die Hysterie, die auf ihre Eröffnung folgte, war noch viel schlimmer, als sie erwartet hatte. Es war einfacher gewesen, es Mr. Ex-Rockstar selbst zu sagen.
Nachdem Mr. Ex-Rockstar den ersten Schock darüber verwunden hatte, dass jemand anderes sich in Lola verliebt hatte oder dass Lola sich in jemand anderen verliebt hatte, wirkte er beinahe erfreut über die Nachricht. Nachdem er eine Woche lang nichts gegessen und sechs Kilo abgenommen hatte, fragte Mr. Ex-Rockstar, ob sie nicht gute Freunde bleiben könnten. »Natürlich«, sagte Lola. Sie hatte das Gefühl, dass sie Mr. Ex-Rockstar liebte, auf schwesterliche Weise. Sie wusste noch nicht, dass er sich in einen Menschen verwandeln würde, den sie kaum noch wiedererkannte.
»Du warst immer ein bisschen zu intensiv für mich«, sagte Mr. Ex-Rockstar.
»Wirklich?«, sagte Lola. Ihr Schuldgefühl, weil sie ihn verließ, begann sich in nichts aufzulösen. Mr. Ex-Rockstar sah so fröhlich aus wie seit Jahren nicht mehr. Sie begriff, dass er sich fragte, ob er nicht sein früheres Rockstar-Leben wieder aufnehmen könnte, auch wenn er inzwischen Buchhalter war.
Edek nahm die Nachricht weniger gelassen auf. »Oj Gott«, sagte er mehrere Male. Er wirkte wie vor den Kopf geschlagen. Renia blies gleich zur Jagd. »Hitler hat mich nicht leben lassen«, schrie sie, »damit du mir den Rest gibst.« Bevor Lola Zeit hatte, etwas zu sagen, falls ihr etwas eingefallen wäre, nachdem sie mit Hitler auf eine Stufe gestellt worden war, jammerte Renia: »Wäre ich bloß in Auschwitz gestorben, dann müsste ich das nicht erleben.«
»Liebala, Liebala«, sagte Edek und benutzte ihren Kosenamen, »tu uns das nicht an.«
»Ich tue nicht euch das an«, sagte Lola. »Ich tue es mir selbst an. Ich bin diejenige, die ihre Ehe beendet.«
»Sie will uns umbringen«, sagte Renia.
»Ich will euch nicht umbringen«, sagte Lola.
»Wäre ich bloß in Auschwitz gestorben«, sagte Renia noch einmal und schluchzte.
Lola war erschrocken. Sie hatte Renia immer nur leise weinen sehen. Sie weinte leise um ihre Toten. Um ihren Vater oder ihre Mutter oder eines von ihren Geschwistern. Einmal, mit fünf oder sechs Jahren, hatte Lola Renia dabei beobachtet, wie sie leise weinte. Renias Körper wurde von gewaltigen Schluchzern geschüttelt, ohne dass sie einen Ton von sich gab. Lola hatte die Arme um ihre Mutter geschlungen, ohne dass Renia es zu bemerken schien.
Edek war nach Hause gekommen und hatte sie beide schweigend nebeneinandersitzen sehen. Edek sagte etwas auf Polnisch zu Renia. »Deine Mutter weint um einen kleinen Jun
gen, der gestorben ist im Ghetto«, sagte Edek zu Lola. Lola hatte gewusst, dass ihre Mutter wegen etwas sehr Traurigem weinte. Doch es würde Jahre dauern, bis sie erfuhr, dass der kleine Junge ihr Bruder gewesen war. Renias und Edeks kleiner Junge.
Lola wünschte, sie hätte eine Weile gewartet, ehe sie Edek und Renia darüber informierte, dass sie Mr. Ex-Rockstar verließ. Lola hatte Renia noch nie aus Wut weinen sehen. Es machte ihr Angst. Sie versuchte, sich zu beruhigen. Sie glaubte nicht, dass Renia sich wirklich wünschte, sie wäre in Auschwitz gestorben.
Lola nahm an, dass Auschwitz eines der ersten Wörter war,
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