Lola Bensky
werden. Nachdem er das gesagt hatte, sah Lola Harry Mendel lange an. Dann streckte sie die Hand aus und nahm sich ein großes Stück von Mrs. Mendels frischgebackenem Käsekuchen.
Lola parkte vor dem Häuschen in Carlton, das sie als Büro gemietet hatte. Das Häuschen war winzig. Zwei Zimmer mit Küche. Es erinnerte Lola an das kleine Haus in North Carlton, in das sie, Renia und Edek nach ihrem Auszug aus dem Zimmer in Brunswick gezogen waren. Das Häuschen in North Carlton lag zu Fuß ein paar Minuten von Lolas Büro entfernt.
Lola arbeitete für ein monatlich erscheinendes Hochglanzmagazin. Das Magazin hatte den Ruf, hip und gleichzeitig intellektuell zu sein. Lolas Spezialität waren Porträts, lange Geschichten über Menschen von drei- bis fünftausend Wörtern. Diesen Monat schrieb sie über einen Melbourner Psychiater, der versuchte, Patienten mit Hilfe von Meditation von ihren Krebstumoren zu heilen oder deren Wachstum einzudämmen. Lola hatte mehrere Meditationssitzungen über sich ergehen lassen müssen. Lola war nicht der Typ, der meditierte. Sie fand es schwierig, eine Stunde lang schweigend in einem Raum voller Menschen zu sitzen, die sie nicht kannte. Es machte ihr Angst. Sie nahm sich vor, eine Valium zu nehmen, falls sie wieder einmal meditieren müsste.
In allem, was Bewegungslosigkeit erforderte, war Lola nicht gut. Meditation, Massage, Gesichtsbehandlungen, Gesichtsmasken, Schlammbäder. All diese Dinge lösten Ängste in ihr aus. Lola fragte sich, ob sie noch an einer weiteren Meditationssitzung würde teilnehmen müssen. Wahrscheinlich, dachte sie, hatte sie genug Material beisammen, um den Artikel zu schreiben.
Sie schrieb gerne Porträts. Sie mochte es, aus den Einzelteilen eines Lebens ein Ganzes zusammenzusetzen. Bei den meisten Menschen fanden sich Bruchstücke und Bausteine, die zueinanderpassten. Die Schnipsel und Fetzen waren miteinander verbunden. Es gab keine großen, klaffenden Lücken oder verstörenden Leerstellen. Bei den meisten Menschen musste sie nur ausreichend viele Fragen stellen, damit sich ein vollständiges Bild ergab. Sie beobachtete die Menschen, die sie interviewte. Achtete auf ihre Gesten, horchte auf den Klang ihrer Stimmen, registrierte ihr Verhalten, merkte sich ihre Reaktionen. Sah, wie ihre Eigenheiten und ihre Geschichte sich zusammenfügten und sie zu den Menschen machten, die sie waren.
Sie war überzeugt davon, ihre eigene Geschichte gleiche einem offenen Buch, obwohl sie sehr darauf achtete, sie hinter einer ruhigen Stimme und langsamen, bedächtigen Bewegungen zu verbergen. Doch man musste nur genauer hinsehen, hinter das wohlbemessene Lächeln schauen, und schon könnte man fast die Nazis wie perfekte Revuetänzerinnen im Stechschritt aufmarschieren sehen.
Manche Menschen kamen Lola so vor, als stammten sie von einem Flecken blauen Himmels in ewigem Sonnenschein. Sie beneidete sie. Auch wenn ihr übermäßig fröhliche oder allzu optimistische Menschen ein wenig verdächtig vorkamen. Lola fühlte sich eher zu den missmutigen Typen hin
gezogen. Zu Menschen, die Zweifel hatten. Menschen, die gekämpft hatten. Menschen, die gelitten hatten. Sie nahm an, dass einer der Gründe, warum sie Mr. Ex-Rockstar vermutlich liebte, die Gefühlskälte seiner Eltern war. Ihre Unnahbarkeit. Mr. Ex-Rockstar war ihr jüngstes Kind, und sie dachte, dass es für ihn sehr schwer gewesen sein musste, bei diesen sehr wohlhabenden, sehr abweisenden Eltern aufzuwachsen.
Lola fand es erschreckend, wie gleichgültig sich seine Eltern ihren Kindern gegenüber verhielten. Mrs. Ex-Rockstar Senior sagte ›Hallo, Liebling‹, wenn sie ihren Sohn sah, und spitzte die Lippen zu einem flüchtigen Kuss auf seine Wange. Doch in diesem Küsschen lag kein Gefühl. Es war ein leeres Küsschen.
Mrs. Ex-Rockstar Senior spielte gern Golf. Sie arbeitete nicht. Sie kochte auch normalerweise nicht, was allerdings gut war, dachte Lola, denn bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen Mrs. Ex-Rockstar Senior gekocht hatte, hatte es jedes Mal das Gleiche gegeben. Und jedes Mal war es furchtbar gewesen. Als Appetizer servierte sie mit rohen Zwiebelringen belegte Tomatenhälften. Was für ein Appetizer war das denn? Lola war es gewohnt, dass Renia Bensky stundenlang in der Küche stand und derartig viel kochte, dass es für dreimal so viele Personen gereicht hätte, als tatsächlich eingeladen waren. Als Appetizer bereitete sie eine ganze Reihe kleiner Gerichte zu, die zu dem kräftigen Schwarzbrot
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