Lolita (German)
Alles um. Sie hatte manch eine konventionelle Angewohnheit angenommen: zum Beispiel die höfliche jugendliche Art, zu beweisen, daß man sich buchstäblich «vor Lachen krümmt», indem man den Kopf vornüber hängen läßt, und als sie mich rufen hörte, tat sie noch immer so, als könne sie sich vor Lachen nicht halten, machte ein paar Schritte rückwärts, drehte sich dann um und kam mit einem verblassenden Lächeln auf mich zu. Andererseits - vielleicht, weil es mich an ihre erste unvergeßliche Beichte erinnerte - hatte ihr Trick, in humoriger Schicksalsergebenheit «Ach Gott» zu seufzen, es mir sehr angetan, ebenso wie das langgezogene «Neeiiin» mit seinem tiefen, fast brummenden Unterton, wenn das Schicksal wirklich zugeschlagen hatte. Da wir schon von Bewegungen und Jugend sprechen: Besonders gern sah ich es, wenn sie auf ihrem schönen jungen Fahrrad die Thayer Street hinauf- und hinunterstrampelte, sich auf die Pedale stellte, um sie kräftig durchzutreten, dann in ermatteter Haltung niedersank, während die Geschwindigkeit immer weiter abnahm; und dann hielt sie an unserem Briefkasten und blätterte, immer noch im Sattel, in einem Magazin, das sie darin gefunden hatte, steckte es wieder hinein, drückte die Zunge seitlich gegen die Oberlippe, stieß sich mit dem Fuß ab und jagte erneut durch die blassen Muster von Schatten und Licht.
Im großen ganzen schien sie sich ihrer neuen Umgebung besser anzupassen, als ich zu hoffen gewagt hatte, wenn ich an meine verwöhnte kleine Sklavin und die Macken dachte, mit denen sie sich den Winter davor in Kalifornien naiv herausgeputzt hatte wie mit Armreifen. Obgleich ich mich nie an den dauernden Angstzustand gewöhnen konnte, in dem die Schuldigen, die Großen, die Weichherzigen leben, hatte ich doch das Gefühl, daß ich in puncto Mimikry mein Bestes tat. Wenn ich nach einem Akt der Anbetung und Verzweiflung in Lolitas kaltem Schlafzimmer wieder auf dem schmalen Bett in meinem Arbeitszimmer lag, beschloß ich den Tag damit, daß ich mein eigenes Bild prüfte, so wie es vor dem entzündeten Auge des Geistes weniger vorüberzog als raubtierhaft vorüberstrich. Ich beobachtete, wie der dunkelhaarige, gutaussehende, nicht unkeltische, wahrscheinlich anglikanische, möglicherweise sehr anglikanische Dr. Humbert seine Tochter zur Schule brachte. Ich beobachtete, wie er mit seinem langsamen Lächeln und seinen reizvoll geschwungenen, dicken, schwarzen Reklamebrauen die gute Mrs. Holigan begrüßte, die pestilenzialisch stank (und, wie ich wußte, bei der ersten Gelegenheit stracks an den Gin ihres Arbeitgebers ging). Mit den Augen von Mr. West, Scharfrichter im Ruhestand oder Autor religiöser Traktate - wen interessiert's? - sah ich Nachbar Wieheißterdochnoch (ich glaube, sie sind Franzosen oder Schweizer) im offenherzig verglasten Arbeitszimmer über einer Schreibmaschine brüten, mit ziemlich ausgezehrtem Profil und einer an Hitler erinnernden Schmachtsträhne über der bleichen Stirn. Am Wochenende konnte man Professor H. in gut geschnittenem Mantel und braunen Handschuhen sehen, wie er mit seiner Tochter zum Walton Inn spazierte (berühmt für seine lilabebänderten Porzellanhäschen und Konfekt-schachteln, zwischen denen man sitzt und auf einen «Zweiertisch» wartet, auf dem noch die unappetitlichen Krümel des Vorgängers liegen). Jetzt sehen wir, wie er an Wochentagen etwa um ein Uhr mittags würdevoll die argusäugige Miss Ost grüßt, während er vorsichtig den Wagen aus der Garage und um die verflixten Wacholdersträucher manövriert und dann auf die schlüpfrige Straße hinablenkt. Wie er in der ausgemacht schwülen Bibliothek des Beardsley-College zwischen massigen jungen Frauen, die in der überfließenden Masse menschlichen Wissens gefangen und versteinert sind, den kalten Blick vom Buch zur Uhr hebt. Wie er mit dem College-Geistlichen, dem Reverend Rig-ger (der in der Beardsley-Schule Bibelstunden gibt), über den Campus schlendert. «Jemand hat mir erzählt, daß ihre Mutter eine berühmte Schauspielerin war, die bei einem Flugzeugunfall ums Leben kam. Ah? Wohl ein Irrtum meinerseits. Ach so ist das. Ich verstehe. Wie traurig.»(Sublimierung der Mutter, was?) Wie ich langsam meinen kleinen Einkaufswagen durch das Labyrinth des Supermarkts schiebe, hinter Professor W. her, der auch ein bedächtiger und harmloser Witwer mit den Augen einer Ziege ist. Wie ich in Hemdsärmeln Schnee schippe, einen umfänglichen schwarz-weißen Schal um den Hals. Wie
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