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Lolita (German)

Lolita (German)

Titel: Lolita (German) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Nabokov
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war dunkel und schwül und hoffnungslos. Meine Scheinwerfer hingen über einem breiten, wassergefüllten Graben. Sofern überhaupt vorhanden, war das Land ringsum eine schwarze Wüstenei. Ich versuchte freizukommen, aber meine Hinterräder wimmerten nur in Matsch und Pein. Ich verfluchte meine Lage, zog meine feinen Sachen aus und eine Leinenhose und den kugeldurchlöcherten Pullover an und watete vier Meilen zurück zu einer am Weg gelegenen Farm. Unterwegs fing es an zu regnen, aber ich hatte nicht die Kraft, zurückzugehen und meinen Regenmantel zu holen. Solche Vorfälle haben mich davon überzeugt, daß mein Herz kürzlichen Diagnosen zum Trotz im Grunde gesund ist. Gegen Mitternacht zog ein Abschleppwagen mein Auto heraus. Ich steuerte es irgendwie auf die Autostraße X zurück und fuhr weiter. Eine Stunde später überkam mich in einer anonymen kleinen Stadt tiefe Müdigkeit, Ich hielt an der Bordschwelle und nahm einen tiefen Schluck aus einem freundlichen Flachmann.
    Der Regen war schon Meilen vorher abgesagt worden. Es war eine schwarze warme Nacht irgendwo in Appalachia. Ab und zu kamen Wagen vorbei, zurückweichende Rubine, nahende Brillanten, aber die Stadt schlief fest. Niemand schlenderte lachend ihre Gehsteige entlang, wie es die Bürger im süßen, reifen, verrottenden Europa tun, wenn sie sich nach Feierabend entspannen. Ich war allein, die unschuldige Nacht und meine schrecklichen Gedanken zu genießen. Ein Gitterkorb an der Bordschwelle war sehr heikel in bezug auf akzeptablen Inhalt: «Kehricht. Papier, Kein Müll.» Kirschrote Leuchtbuchstaben markierten einen Photoladen. Ein großes Thermometer mit dem Namen eines Abführmittels hing still an der Wand eines Drugstores. Rubinov's Juwelen Co. hatte künstliche Brillanten im Schaufenster, die von einem roten Spiegel reflektiert wurden. Eine phosphoreszierende Uhr mit grünen Zeigern schwamm in den linnenen Tiefen der Wäscherei Jiffy Jeff. Auf der anderen Straßenseite sprach eine Autowerkstatt im Schlaf «Letzte Ölung» und korrigierte sich zu «Lexco Öle». Ein Flugzeug, ebenfalls von Rubi-nov mit Juwelen geschmückt, zog brummend im samtenen Himmel dahin. Wie viele kleine, nächtlich ausgestorbene Städte hatte ich schon gesehen! Die letzte war dies noch nicht.
    Lassen Sie mich noch ein wenig dahinschwatzen, er ist so gut wie ausgelöscht. Etwas weiter weg auf der anderen Straßenseite flackerten Neonlichter halb so schnell wie mein Herz: Der Umriß eines Restau-rantschilds, eine große Kaffeekanne, erwachte jede zweite Sekunde zu smaragdgrünem Leben, und jedesmal, wenn sie erlosch, lösten die pinkfarbenen Buchstaben «Gute Küche» sie ab, doch vor der nächsten smaragdenen Wiederauferstehung war die Kaffeekanne noch immer als foppender latenter Schatten zu erkennen. Wir haben Röntgenaufnahmen gemacht. Dies scheue Städtchen lag nicht weit von den Verzauberten Jägern. Ich weinte wieder, trunken von der unmöglichen Vergangenheit.

31
    Während dieser einsamen Erfrischungspause zwischen Coalmont und Ramsdale (zwischen der unschuldigen Dolly Schiller und dem jovialen Onkel Ivor) überdachte ich meinen Fall. Mich und meine Liebe - ich sah sie jetzt in größter Einfachheit, mit größter Deutlichkeit vor mir. Frühere Versuche schienen im Vergleich dazu nicht scharf genug eingestellt. Angeleitet von einem intelligenten, französisch sprechenden Beichtvater, dem ich in einem Augenblick metaphysischer Neugier meinen faden Protestantismus gegen eine altmodische papistische Kur in Tausch gab, hatte ich einige Jahre zuvor die Hoffnung gehabt, aus meinem Sündenbewußtsein auf die Existenz eines Höheren Wesens schließen zu können. An jenen frostigen Vormittagen im Rauhreifspitzenmuster Quebecs hatte mich der gute Priester mit großem Takt und Verständnis bearbeitet. Ich bin ihm und der großen Institution, die er repräsentiert, unendlich verpflichtet. Aber ach, ich war außerstande, über eine einfache menschliche Tatsache hinwegzukommen: Welchen geistlichen Trost ich auch immer finden mochte, welche lithophanischen Ewigkeiten auch für mich bereitliegen mochten, nichts konnte meine Lolita je die schmutzige Lust vergessen machen, die ich ihr aufgezwungen hatte. Solange mir nicht bewiesen werden kann - mir, wie ich jetzt, heute, bin, mit meinem Herzen und meinem Bart und meinem beginnenden körperlichen Verfall -, daß es im unendlichen Lauf der Dinge kein Jota ausmacht, wenn ein minderjähriges nordamerikanisches Mädchen namens Dolores Haze

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