London 1666
Pepys diesem Tagebuch mehr die Treue als seiner Frau.
Er weiß selbst nicht, was die Triebfeder seines Schreibens ist. Aber es kommt, wie er es sich immer erträumte: Er macht Karriere. Plötzlich scheinen ihm die Sympathien der maßgeblichen Herren nur so zuzufliegen. Erst ist er Mitglied der Delegation, die König Karl II. aus seinem holländischen Exil zurückholt. Dann steigt er vom Sekretär im Flottenamt zum Friedensrichter auf und zieht von der Axe Yard in die angesehenere Seething Lane um, wo er bald darauf Zugang zur königlichen Gesellschaft erhält. Schließlich ernennt der König selbst ihn zum Leiter der Proviantabteilung im Flottenamt, eine gut besoldete und hoch angesehene Stellung.
Stetig erklimmt er die Erfolgsleiter weiter nach oben. Aber manchmal wacht er morgens in seinem Bette auf und hat noch die schmutzigen Galoschen an den Füßen. Dann weiß er nicht, wann er in der Nacht nach Hause gekommen ist und wo er war.
Den fetten Jahren folgen Monate steter Furcht. Die Pest sucht London heim. Freunde, Nachbarn und Verwandte sterben. Pepys und seine Frau haben Glück. Als die Seuche wieder spürbar abebbt, sind sie noch am Leben. Scheinbare Normalität kehrt ins Stadtbild zurück. Jetzt beunruhigt fast nur noch der Krieg gegen die Holländer Bürgerschaft und königliches Gefolge.
Pepys schöpft Hoffnung, daß sich seine Glückssträhne fortsetzt.
Dieser Optimismus hält an bis zu jener Nacht am Kanal, als er in der St. Bartholomew's Street auf ein Mädchen trifft, ein hübsches Ding, das ihm auf Anhieb den Kopf verdreht und die Sinne vernebelt.
Und . dessen Gift ihm die Augen öffnet . ihm die Erinnerung zurückgibt an Silvester 1659 und an das, was dort am Teich von Downings Haus wirklich geschah.
Wirklich?
Er erstickt fast an diesem Wort und seiner Lüge!
Wirklich . das gibt es überhaupt nicht! Nicht mehr . für ihn! Für Kyle, der Pepys ist.
Und für Pepys, der Kyle war/ist/immer-sein-wird.
Immer!
Noch so ein Wort, das eine Lüge ist .
*
Dienstag, 28. August 1666
Kyle litt immer noch wie ein räudiger Hund, und er hatte das Haus nicht mehr verlassen, seit er von Ruby heimgekehrt war und jeden Menschen dort zur Ader gelassen hatte!
Heimgekehrt . Was für ein Hohn!
Dies ist nicht mein Zuhause! machte er sich drastisch bewußt. Ich bin kein Mensch, und schon gar nicht der, für den ich mich jahrelang hielt...!
ICH BIN NICHT SAMUEL PEPYS!
Was für eine heimtückische, was für eine paralysierende Erkenntnis: ein Wesen zu sein, das nach Blut lechzt - BLUT -, und dessen Vergangenheit bis zu jener Nacht vor sieben Jahren eine einzige Aneinanderreihung von Siegen gewesen ist .
Was war geschehen? Wo waren seine Brüder und Schwestern, wo war Koogan, sein Oberhaupt ... Wo ? Warum hatte keiner von ihnen ausreichende Nachforschungen angestellt, um sein Verschwinden aufzuklären? Warum hatte die Sippe ihn so schmählich im Stich gelassen?
Ein Vampir verschwand nicht einfach von der Bildfläche. Hin und wieder geschah zwar das Ungeheuerliche, daß ein Mächtiger aus diesem oder jenem Grunde trotz seiner kelchgegebenen Unsterblichkeit und Stärke einer Verschwörung oder einem Unglücksfall zum Opfer fiel, doch stets löste sein Tod einen signifikanten Impuls aus, der jeden Angehörigen seiner Sippe wie eine Schockwelle erreichte und zum Ort der Vernichtung rührte.
Du bist aber nicht gestorben, du Narr, begreif es endlich! Du bist... nur ER geworden - ein Mensch ...
Kyle krümmte sich hinter dem Schreibtisch seines erst kürzlich völlig neu eingerichteten Arbeitszimmers. Er wollte kein Mensch sein. Und er glaubte auch nicht, daß er einer geworden war, obwohl er im Spiegel ein Bild erhalten hatte, das absurderweise dem von Pe-pys, wie er ihn auf Downings Fest kennengelernt hatte, entsprach!
Wie ging das zu?
Eine Taufe, wie er, Kyle, sie empfangen hatte, war nicht rückgängig zu machen - niemals mehr!
Der Staub fiel ihm ein. Der viele Staub, den Pepys sich vom Anzug geklopft hatte, als er den anderen zurück zu Downings Haus gefolgt war.
Staub .
Asche? Reste seines Körpers .?
Vor ihm auf dem Tisch lag das Tagebuch, Samuel Pepys Tagebuch, in dem er seit dem gestrigen Tag fast unaufhörlich las; nur ab und zu von kleinen Pausen unterbrochen, in denen er sich einen »Imbiß« gönnte, vorzugsweise aus Simpsons Adergeflecht, so als wäre Kyles alte Vorliebe für männliches Bouquet ebenso wie die Erinnerung an die wahre Identität wiedergekehrt.
Die letzte Tagebucheintragung datierte
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