London 1666
noch einmal zu.
Cutters Gesicht schlug auf die Steine. Schmerz mischte sich mit einem nie erlebten Kälteempfinden. Aber er war nicht in der Lage, etwas zu seinem Schutz zu unternehmen. Gottergeben kauerte er da und krümmte sich unter jedem weiteren Tritt.
Aufhören! dachte er. Warum tust du mir das an, du giftige kleine Kröte?
Niemand kam ihm zu Hilfe, obwohl er hier unten bekannt war. Alle, die in der Nähe hockten oder lagen, sahen weg!
Vielleicht, wenn er laut genug geschrien hätte . aber er war nur zu einem Röcheln fähig, obwohl das Brot inzwischen aus der Luftröhre herausgehustet war. Der ganze Brustkorb tat ihm weh, jede Stelle, wo sie ihn mit ihren spitzen Schuhen malträtiert hatte .
Das Lumpenmädchen ließ erst von ihm ab, als er schlaff in sich zusammensank.
Dann stieg es die steinernen Stufen hinauf zur Fish Street, von niemandem behelligt, nicht einmal von zwei grobschlächtigen Kerlen, die sich gerade ächzend die Treppe herabquälten.
Es war, als wäre es unsichtbar, zumindest aber unnahbar.
Ein Mädchen wie eine Krankheit - die man besser mied .
*
Ruby war kaum weniger hungrig als zuvor. Der Bissen Brot hatte sie nicht annähernd gesättigt, und sie bedauerte, den Alten nicht ausge-plündert zu haben, bevor sie gegangen war.
Erstaunlicherweise war es hier oben zwischen den Häusern der Fish Street nebliger als direkt dort unten am Wasser der Themse.
Ruby hatte die Arme über Kreuz verschränkt und die Hände rechts und links unter den Achselhöhlen eingeklemmt. Aber der Stoff des schäbigen Mantels wärmte kaum. Es hätte ihr nichts ausgemacht, wenn irgendein Kerl gekommen wäre und ihr ein warmes Bett für eine Gefälligkeit angeboten hätte - aber keiner der Herren, die ein Bett besaßen, ließ sich blicken.
London bei Nebel erinnerte an einen gigantischen Friedhof.
Staksend setzte Ruby Schritt vor Schritt. Rechter Hand überragten die Mauern der St. Magnus Church die Gebäude des Straßenzugs. Ruby hatte noch nie etwas für Kirchen übrig gehabt, deshalb überraschte es sie selbst, als sie sich in diese Richtung wandte.
Von irgendwoher dröhnte das Horn eines Schiffes, dessen Kapitän verrückt genug war, den Hafen unter widrigen nächtlichen Verhältnissen anlaufen zu wollen. Aber vielleicht hätte er noch mehr riskiert, nur um endlich wieder einen Ankerplatz zu finden, der vor den Holländern sicher war .
Ruby verfolgte den Gedanken nicht weiter. Krieg war immer etwas Abstraktes für sie geblieben. Der Tod nicht, wohl aber alles Sterben, das mit Kanonendonner, Flintensalven und Säbelgerassel zusammenhing.
Als sie den dunklen Kirchenmauern schon sehr nahe gekommen war, hatte sie plötzlich das Gefühl, von einer aus dem Himmel herabstoßenden Faust getroffen und zu Boden geschmettert zu werden.
Nach einer Weile kam sie benommen wieder zu sich und lag tatsächlich auf den kalten Pflastersteinen!
Sie wußte nicht, was über sie gekommen war, aber ihr war plötzlich so schlecht wie in der Nacht, als sie Pepys kennengelernt hatte.
Die absurde Erinnerung an den Mann, der sie erst aufgegabelt und dann zu töten versucht hatte, war noch taufrisch. Genauso gegen-wärtig wie die Art und Weise, mit der er sich aus dem Staub gemacht hatte: Erst war er aus einer Höhe aus dem Fenster gestürzt, die ihm alle Knochen im Leib hätte zertrümmern müssen - und dann war er, von Flügelrauschen begleitet, verschwunden!
Wenn Ruby eines sicher wußte, dann dies: Pepys war kein Engel gewesen! Folglich mußten die Schwingen, die ihn davongetragen hatten, aus den Schultern eines anderen Ungeheuers gesprossen sein!
Eines anderen .?
... UNGEHEUERS! bestätigte sie sich selbst.
Dann wurde sie von einem Geräusch aufgeschreckt.
Vielleicht bohrte es sich nicht wirklich hörbar in die Nacht, aber für Ruby klang es, als würde ein riesiges Gebäude mit Getöse in sich zusammenstürzen!
Sie rappelte sich auf und schüttelte sich.
Das stählerne Kreuz auf der Turmspitze der St. Magnus Church schien einen Moment in stechend grelles Licht getaucht zu sein, als hätte ein Blitz genau dort hineingeschlagen!
Ruby, die gerade nach oben geschaut hatte, zuckte heftig zusammen. Es dauerte eine Weile, bis die Blendung nachließ und die schwarzen Funken nicht mehr über ihre Augen stoben.
Was war das ? dachte sie und konzentrierte sich auf ihre Füße. Meldeten sie ein Beben?
Nein, sie fühlte keinerlei Erschütterung - einmal abgesehen vom Schlag ihres Herzens, das sich plötzlich wie wild
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