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London Hades

London Hades

Titel: London Hades Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Dettmers
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mir Federkiel und Tintenfass zu geben, hat man mir bisher nichts Gutes getan. Und ich erwarte auch nichts Gutes. Warum sperrt man einen Mann mit Feder und Tinte in ein Verlies wie dieses? Wollen sie, dass ich schreibe? Können sie überhaupt wissen, dass ich schreiben kann?
    Ich weiß nicht einmal, wie viel Zeit seit meiner Ankunft in diesem Loch vergangen ist. Es sind ungezählte Stunden. Ich messe sie im endlosen Klopfen des Wassers, das von der niedrigen Decke rinnt und in der Grube versickert, die mir als Abtritt dient.
    So närrisch bin ich schon geworden – davon hatte ich dir nichts schreiben wollen. Das trübe Flackern auf dem Gang, das helle Papier, auf das ich jetzt starre – ich wü nschte, es würde mehr tun, als mir die Augen zu verbrennen, weil ich bereits so lange im Dunkeln gesessen habe.
    Ja, verdammt, ich habe versagt, Frances, und ich kann mich nicht damit abfinden! Ich habe deinen Ring hier bei mir, er hängt an einer Schnur von meinem Hals hinab, versteckt von meinem Hemd – ha – oder vielmehr von den Resten, die ich davon noch am Leib trage … Und ich will, dass du ihn siehst, mein Herz! Ich will so sehr, dass du ihn siehst!
    Obwohl ich mich bereits in der schändlichsten aller Situationen befinde, bringe ich eines nicht über mich: diesen Seiten – dir – anzuvertrauen, was ich über mich ergehen lassen habe, um von all den Dingen, die ich aufgeben musste, wenigstens deinen Ring behalten zu kö nnen. Als ob ich dir das je vorhalten könnte. Du hast nie etwas von mir verlangt.
    Die Buchstaben flossen von seiner Hand auf das Papier. Die letzten Zeilen hatte er fliegend notiert, wie im Wahn geschrieben, weil alles, alles um ihn herum nicht mehr z ä hlte. Nur noch die aufgestauten Gedanken und Frances und die Dinge, die er ihr sagen musste.
    Erst als die Seiten des Buches vor ihm immer dunkler wurden, tauchte er aus dem Strudel auf, in den ihn der Brief gerissen hatte. Das Licht nahm ab? Er sah auf und h ä tte am liebsten aufgeschrien. Das war zu fr ü h! Die wenigen Zeilen, die er geschrieben hatte, hatten das Verlangen in ihm kaum gestillt. Es gab noch so viel Ungesagtes, so viel, dass er Frances hatte schreiben wollen. Wie lange w ü rde er die Worte nun wieder in seinem Kopf einschlie ß en m ü ssen?
    Getrieben von einer nie gekannten Angst vor der Dunkelheit kritzelte er einige letzte S ä tze auf die Seite:
    Frances, ich werde hier fü r dich ausharren, damit ich dir irgendwann die Wahrheit erzählen kann. Der Gedanke an dich wird meiner Hoffnung Nahrung geben. Ich werde hier nicht lebendig begraben sein.
    Du bist mein Licht auf ewig. Untrennbar und unlösbar dein,
    Matthew
    Mit einem Schlag wurde es dunkel. Matthew atmete lange aus, bis sich keine Luft mehr in seinen Lungen befand. Dann klappte er das Buch zu und dr ü ckte es mit verschr ä nkten Armen fest an seine Brust. Frances ’ Bild konnte ihm die Dunkelheit nicht nehmen. Es leuchtete vor seinen geschlossenen Augen heller als jede Flamme. Wenigstens ging es ihr gut.

    Es gab keine Zeit mehr, keinen Atem, und all die Leute um sie herum verblassten, als sie die alten M ä ntel zur ü ckschlug, mit denen die Totengr ä ber die K ö rper auf dem Karren zugedeckt hatten. Frances konnte nicht sagen, ob das Wimmern, das sie h ö rte, aus ihrer eigenen Brust kam oder aus der des M ä dchens, das sich eben noch an Henri geklammert hatte.
    Unter dem schweren Stoff lag ihr Bruder.
    Ein einzelner, kurzer Blick h ä tte gen ü gt, um ihr die Wahrheit zu offenbaren, aber nun nagelte das Entsetzen ihre verkrampften H ä nde an die Seitenwand des Leiterwagens. Sie starrte auf Henry hinab, versuchte weiterzuatmen, das Denken nicht einfach aufzugeben. Jemand hatte sich bem ü ht, nicht nur seine Kehle in Kreuzform aufzuschneiden, sondern auch umgekehrte Kreuze mit dem Blut auf dessen Antlitz gezeichnet. Dennoch gab es keinen Zweifel, dass er es war. Schon als sie den Namen geh ö rt hatte, hatte sie keinerlei Hoffnung gehabt, es k ö nne sich um jemand anderen als ihn handeln.
    Dieser Tag kannte kein Erbarmen mit ihr.
    F ü r das M ä dchen, das neben Henry auf dem Karren lag und dessen Hand fest in die seine verkrallt zu sein schien, obwohl sie wahrscheinlich nur ü ber seinen Fingern lag, hatte sie kaum einen Blick. Die Grenzen ihres Verstandes waren endg ü ltig erreicht. Sie begriff nichts mehr. Wieso musste sie Henry hier wiedersehen, auf einem Karren, abgelegt wie Unrat, den man von der Stra ß e aufgelesen hatte, ohne die Chance, ihm

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