London Killing - Harris, O: London Killing - Belsey Bottoms Out
zwar nicht, was wichtig ist, aber das heißt auch, dass es nicht weiß, was unwichtig ist. Keine guten Nachrichten. Sie bedeuteten, dass sich jederzeit jemand für Devereux interessieren könnte – für das Geld, die Leiche, die hübsche Fassade in der Bishops Avenue.
Er ging an der British Library vorbei, bog in die Midland Road ein und befand sich, als er den Kopf wieder hob, auf der Rückseite des Eurostar-Bahnhofs. Er betrachtete den Kiesstreifen hinter dem Maschendrahtzaun – zwischen Zaun und Gleisen. Wenn er da hineinkäme und auf den abfahrenden Zug aufspringen könnte … Und wieder abspringen könnte, wenn der Zug das Tempo verlangsamte – kurz vor Brüssel, dem Tor zur Welt.
Er erreichte die Rechtsmedizin St. Pancras, wo sich auch das Leichenschauhaus befand. Der in das kleine gotische Gebäude eingelassene Gründungsstein erinnerte an John William Dixon und Samuel Richard Lamble, die den Bau 1867 im Auftrag des Gesundheitsamts hatten errichten lassen. Rissige Betonstufen führten zum Eingang. Dahinter breitete sich unter einem Dach kahler Zweige St. Pancras Gardens aus. Die alten Armenhäuser aus strengem rotem Backstein ragten bedrohlich auf. Die Geister der Kinder aus den Elendsvierteln raschelten in den nackten Zweigen der Bäume und spiegelten sich in den hohen traurigen Fenstern. Bevor Belsey eintrat, sog er noch einmal die Abendluft tief in sich auf. Über der gesamten Anlage hing die Ahnung des Todes – nicht sein Schmerz und sein Schrecken, sondern seine kalte, stille Befremdlichkeit. Der Tod mit einem Finger auf seinen Lippen. Genau der richtige Ort für das amtliche Leichenschauhaus.
Er klopfte an die dreckige Glastür. Ein paar Sekunden später erschien Dr. Angela Hawks in ihrem weißen Kittel. Sie schüttelte den Kopf.
»Wir haben schon zu, Nick.«
»Ich komme wegen der After-Work-Party.«
Sie seufzte, ließ ihn herein und verschloss die Tür wieder. Er wollte ihr einen Kuss auf die Wange geben, aber sie wandte sich ab und ging zurück in ihre düstere, holzvertäfelte, nach Formaldehyd riechende Welt.
Er folgte ihr in den kleinen Leichenschauraum. Der Boden war mit Linoleum ausgelegt, die grauweiß gekachelte Wand zur Rechten war von Rissen durchzogen. In der Wand links befanden sich dreißig nummerierte Klappen. Auf einem Stahltisch lag ein fleischloses Skelett, dem der Unterkiefer fehlte.
»Schau dir den Burschen da an«, sagte Hawks. »Was hältst du davon?«
Belsey musterte das Skelett. Er ging an dem Tisch entlang und wieder zurück: graue Stofffetzen, die einem Haarbü schel ähnelten, hingen an grünfleckigen Knochen, an denen noch etwas Lehm klebte.
»Männlich«, sagte Belsey. »Läsionen an den Knochen. Vielleicht Syphilis. Eine Einkerbung oben an der Wirbelsäule, von einem Messer. Möglich, dass man ihm die Kehle durchgeschnitten hat.
»Zeitpunkt?«
»Wo habt ihr ihn gefunden?«, fragte Belsey.
»E1.«
»Das Grün am Schädel und an den Zähnen stammt von Kupferrückständen. Er wurde also begraben, bevor die Kö nigliche Münze gebaut wurde. Ablagerungen am Schädel. Wie wurde er begraben?«
»In einem Bleisarg.«
»Deshalb sind ihm noch ein paar Haare geblieben.«
»Er ist Römer. Wir tippen auf etwa 200 vor Christus.«
»Was hat ihn ins Reich der Lebenden befördert?«
»Das Einkaufszentrum, das da gerade gebaut wird. Erst haben sie einen ganzen Friedhof aus dem Mittelalter ausgegraben. Dann haben sie gemerkt, dass sich darunter noch einer von den Römern versteckte.«
Belsey schaute in die leeren Augenhöhlen des Römers.
»Die ersten tausend Jahre sind die entscheidenden bei einer Morduntersuchung«, sagte Belsey. »Möglich, dass wir unsere Chance schon verpasst haben. Hat er einen Namen?«
»Hadrian. Wir werden ihn wieder begraben. Jetzt warten wir gerade auf den Spezialisten, der sich mit den Ritualen bei den Römern auskennt.«
Sie behandelten ihre Toten respektvoll, genau nach den amtlichen Bestimmungen, im Stillen und ohne Dank dafür zu erfahren. Das gefiel Belsey. Die Welt kümmerte sich besser um die Menschen, wenn es ihnen bereits egal war.
»Hat der Leichenbeschauer schon den Bericht über den Selbstmord gemacht, den ich euch geschickt habe?«
»Nein. Er musste heute zu einem Autobrand auf der M11.«
»Irgendwas Auffälliges?«
Hawks deckte das Skelett des Römers mit einem blauen Tuch zu. Dann schaute sie auf eine Liste, entriegelte die Klappe von Nummer 29 und zog die auf geölten Rollen laufende Bahre heraus. Belsey nahm ein Paar
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