London Killing - Harris, O: London Killing - Belsey Bottoms Out
ging die Ereignisse noch mal so durch, wie sein Gehirn sie abgespeichert hatte, und wandte dabei die Visualisierungstechniken an, die er auch bei Zeugenbefragungen einsetzte. Er fing an mit dem Morgen, den er so genossen hatte, mit dem Sonnenschein, der Form der Zweige, die sich gegen den Himmel abgezeichnet hatten. Er zoomte auf die Einzelheiten: Morgenfrost in der Mitte jeder einzelnen Gehwegplatte, das Geräusch einer Hupe, das von der Fleet Road kam. Dann ließ er das Mädchen auftreten. Er schaute genauer hin, als er es am Morgen getan hatte. Er sah die einzelnen dunkelbraunen Haarsträhnen, die schwarze Wattierung der Handtasche, den eingerissenen Fingernagel an der Hand, in der sie die Zigarette hielt. Der rechten Hand. Das Mädchen schaute ihn an, jetzt, wo immer sie jetzt auch war, ihr Blick ging durch ihn hindurch, und je mehr er nachdachte, desto mehr starrte und starrte sie ihn an.
Er hatte sie heute nicht zum ersten Mal gesehen. Es war noch gar nicht lange her. Wann war er in einer Schule gewesen? Wann hatte er mit einem Teenager gesprochen?
Tony Cutter kam ins Revier, um ein Geständnis abzulegen. Er zitterte und wirkte paranoid. Belsey sprach mit ihm.
»Ich hatte schon so einen Verdacht.«
»Tut mir leid, Nick. An meinen Händen klebt Blut.«
»Das kommt vor, Tony. Wo wohnst du im Augenblick?«
»Alice Ward.« Alice Ward war die Psychiatrie im Royal Free Hospital. Tony war da nicht zum ersten Mal.
»Anscheinend hast du dich bis vor Kurzem noch auf der Straße rumgetrieben«, sagte Belsey.
»Stimmt. Jetzt hab ich wieder ein Bett im Alice.«
»Billiger als im Obdachlosenheim.«
»Obdachlosenheim!« Er lachte. »Das ist nichts für mich.«
Belsey brachte ihn zurück ins Royal Free Hospital. Auf der Rosslyn Hill zogen sie Blicke auf sich. Wegen der abgesperrten Pond Street war der Verkehr völlig zum Erliegen gekommen. Als habe auch ihn eine sich immer weiter ausbreitende Leichenstarre befallen.
»Kann ich dich was fragen?«, sagte Belsey, während sie zum Krankenhaus gingen.
»Ich steck in der Scheiße, stimmt’s, Nick?«
»Hast du jemals gearbeitet?«
»Gearbeitet?«
»Hast du jemals einen Job gehabt?«
»Ich hab dies und das gemacht. Und dann habe ich Busse gewaschen. Als ich verheiratet war.«
»Du warst verheiratet?«
»Siebzehn Jahre, Nick.«
Das Absperrband der Polizei reichte bis kurz vor die Not aufnahme und ließ nur einen schmalen Weg für die Krankenwagen frei. Vor dem Krankenhaus hatte sich eine kleine Zuschauermenge versammelt: Krankenschwestern, Besucher, Patienten mit Infusionsflaschen. Sie schauten den Kriminal technikern bei der Arbeit zu. Außer einem Riss im Gewebe der Realität gab es nichts zu sehen. Aber das hypnotisierte sie.
»Den Rest schaffe ich allein«, sagte Tony.
»Okay. Ich gehe bald in Urlaub, hoffe ich zumindest«, sagte Belsey. »Kann also sein, dass wir uns eine Zeit lang nicht sehen. Also pass auf dich auf. Und mach keinen Ärger.«
»In Urlaub!« Tony grinste.
»Mach’s gut, Tony.«
Belsey ging zurück zum Revier und rief in der Bereit schaft an.
»Wo ist die Einsatzzentrale?«
»St. John’s Church. Downshire Hill.« Für die ersten Tage einer größeren Ermittlung richteten sie sich in der am nächsten gelegenen Kirche ein: Das war die übliche Praxis. Das Revier Hampstead wäre für die Menge der unter Hochdruck arbeitenden Beamten zu klein gewesen. Sie gaben ihm die Nummer, und er rief an.
»Ist das Mädchen schon identifiziert?«
»Sie heißt Jessica Holden, achtzehn Jahre alt. Das Krankenhaus hat gerade durchgegeben, dass sie nur noch ihren Tod feststellen konnten.«
Der Name sagte ihm nichts. Was ihm umso rätselhafter vorkam, da er sie ja erkannt hatte.
»Sonst irgendwelche Hinweise?«
»Nichts.«
»Wann ist die Pressekonferenz?«
»Um zehn im Stadtteilzentrum. Die hauen schon ihre ers ten Artikel und Sendungen raus, und Northwood will ein paar Fakten klarstellen.«
»Northwood?«
»Er will so schnell wie möglich eine Erklärung abgeben.«
Belsey lehnte sich zurück und dachte an die Panik, an die Deckung suchenden Menschen, an den letzten Blick des Mäd chens. Er gab den Namen Jessica Holden in den Polizeicomputer ein: nichts. Jugendstrafen: nichts. Er rief bei der Passbehörde an.
»Hier ist das Büro von Chief Superintendent Northwood, sagte er. »Sie haben sicher von der Geschichte gehört … Wir haben jetzt den Namen des Opfers … Könnten Sie mal nachschauen, ob …«
Laut Passbehörde hatte Jessica Holden vor
Weitere Kostenlose Bücher