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London NW: Roman (German Edition)

London NW: Roman (German Edition)

Titel: London NW: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zadie Smith
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Es war kein sonderlich dramatisches Ereignis. Stunden schrumpften zu Minuten. Und im entscheidenden Moment konnte sie ganz gelassen zu sich sagen: »Sieh mal einer an, ich gebäre.«
    Was alles nur heißen soll, dass das brutale Bewusstsein der Realität, auf das sie so gehofft, das sie so herbeigesehnt hatte – ohne sich vorher klarzumachen, wie sehr sie damit rechnete –, ausblieb.
161. Fremdheit
    Dennoch gab es da einen Moment – ein paar Minuten nach dem Ereignis, nachdem das verklebte Kind gesäubert und ihr zurückgegeben worden war –, da meinte sie fast, es vielleicht doch zu spüren. Sie blickte in die glänzenden schwarzen Augen eines Wesens, das in keiner Weise identisch war mit der Wesenheit Natalie Blake und in gewisser Weise bewies, dass gar keine solche in sich geschlossene Wesenheit existierte. Aber war dieses Wesen nicht zugleich ein Attribut von Natalie Blake? Eine Erweiterung? In diesem Augenblick weinte sie und empfand ungeheure Demut.
    Wenig später gab es Blumen und Karten und Fotos und Freunde und Verwandte, die mit Geschenken kamen und darin in unterschiedlichem Maße Geschmack und Verstand bewiesen, und an die Stelle des rätselhaften schwarzäugigen Fremden trat ein gutmütiges, drei Kilo schweres Baby namens Naomi. Leute kamen mit Ratschlägen. Wer aus Caldwell war, fand, alles sei bestens, solange man das Baby nicht gerade die Treppe runterwarf. Wer nicht aus Caldwell war, fand, nichts sei bestens, wenn nicht alles absolut perfekt gemacht wurde, und selbst dann gab es noch keine Garantie. Sie war selten so froh gewesen, Leute aus Caldwell zu sehen. Leah Hanwell konnte sie in dieses Schema nicht recht einfügen, denn es ist immer besonders schwierig, die Menschen zu karikieren, die man im Leben am meisten liebt. Leah kam mit einem weißen Plüschhasen und sah Natalie an, als hätte sie einen Abgrund überquert und wäre in eine andere Welt gelangt.
162. Beweis
    Vierzehn Monate nach der Geburt ihres ersten Kindes bekam Natalie Blake ein zweites. Eigentlich hätte er Benjamin heißen sollen, aber als er da war, hatte er ein kleines Haarbüschel mitten auf dem Kopf, wie ein Stachel, und sie nannten ihn drei Tage lang Spike, bis ihnen schließlich der romantische, kinderlose Nachmittag vor Jahren wieder einfiel, als sie in einer Wiederaufführung von She’s Gotta Have It gewesen waren.
    Frank war fröhlich und vollkommen uninteressiert an allen praktischen Fragen, und eine Zeit lang hatte Natalie das Gefühl, ihn wie ein drittes Kind behandeln zu müssen oder auch wie ein viertes – wenn sie das Kindermädchen mitzählte –, das es wie die anderen zu steuern und zu instruieren galt, damit die Zeit maximal genutzt wurde und alle dort landeten, wo sie hinmussten. Zeit totschlagen durfte nur Natalie selbst, wenn sie an ihrem Schreibtisch saß und digitale Fotos ihrer Sprösslinge betrachtete. Objektiv gesehen unterschied sich diese Tätigkeit in nichts von den Anlässen, bei denen sie Fotos von Tatorten durchsehen musste. Eines Morgens erwischte Melanie sie mitten in einer solchen Tagträumerei und konnte ihre Freude nicht verbergen. Hinter dem Foto von Spike war noch ein anderes Fenster offen, mit Anzeigen. Gereizt ließ Natalie eine Umarmung über sich ergehen.
163. Architektur als Schicksal
    Leah sagte Wohnraum dazu, Natalie Wohnzimmer und Marcia Salon. Das Licht war trotzdem immer gleich schön. Und sie stand immer noch gerne im Erker und bewunderte ihren Blick auf den Park. Wenn sie die Dinge betrachtete, die Frank und sie gekauft und im Haus verteilt hatten, stellte Natalie sich oft vor, dass sie eine Geschichte ihres Lebens erzählten, in der das konkrete Haus eigentlich gar keine Rolle spielte, aber natürlich war es auch durchaus möglich, dass das Haus die unbestreitbare Realität darstellte und Natalie, Frank und ihre Tochter nicht mehr waren als menschliches Schattenspiel an der Wand. Seit 1888 streiften Schatten über diese Wände, saßen, lebten, lümmelten herum. An guten Tagen war Natalie stolz auf die kleinen Unterschiede zwischen den früheren Bewohnern, den aktuellen Nachbarn und ihr. Die afrikanischen Masken zum Beispiel. Das abstrakte Gemälde einer Straße in Kingston. Der minimalistische Tisch mit den vier thronartigen Stühlen. Zu anderen Zeiten – vor allem dann, wenn das Kindermädchen mit Naomi unterwegs war und sie allein im Wohnzimmer saß und das Baby stillte – hatte sie das ernüchternde Gefühl, ihr eigener Schatten sei mit allen anderen identisch, auch

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