London NW: Roman (German Edition)
mit denen im Haus nebenan und im Haus daneben.
In der ganzen Straße ließ diesen Herbst Babygeschrei die Lichter auch spätabends nicht verlöschen. Der Schock über den Crash hinterließ ein faustförmiges Loch im Putz an der Wand von Natalies Haus am Park und brachte alle Pläne für den Ausbau des Kellers zum Erliegen. Ohne Arbeit und begierig, sich irgendwie nützlich zu fühlen, wartete Natalie Blake, bis Spike schlief, öffnete ein neues Word-Dokument und tippte wild entschlossen den Titel
Dem Geld auf den Fersen: Bericht einer Ehefrau
Sie konnte sich von Berufs wegen gut ausdrücken, und es machte sie wütend, sich anhören zu müssen, wie im Radio und im Fernsehen der ihrer Ansicht nach tadellose Charakter ihres Mannes verunglimpft wurde. Als ob der arme Frank – dessen Bonuszahlungen im Vergleich wirklich zu vernachlässigen waren – nicht von Grund auf anders wäre als diese ganzen sagenhaften Gauner und Betrüger.
Als er nach Hause kam, wollte sie mit ihm ein Gespräch über das Thema beginnen. Er sah von seinem chinesischen Essen auf.
»Du hast mir noch nie eine einzige Frage zu meiner Arbeit gestellt.«
Natalie bestritt das, obwohl es wesentlich der Wahrheit entsprach, und hielt im Interesse des Journalismus weiter am Thema fest.
»Es sollte aber doch keine Frage des individuellen Moralempfindens sein, oder? Sondern eine Frage der rechtlichen Vorschriften.«
Frank legte die Stäbchen beiseite. »Wieso reden wir jetzt darüber?«
»Hier wird Geschichte geschrieben. Du bist ein Teil davon.«
Frank bestritt, Teil der Geschichtsschreibung zu sein. Er widmete sich wieder seinem Chow Mein. Natalie Blake war nicht aufzuhalten.
»Viele unserer Partner schreiben inzwischen Artikel für die Online-Ausgaben der großen Zeitungen. Einschätzungen. Ich sollte auch mehr in die Richtung machen. Das kann ich wenigstens von zu Hause aus.«
Frank deutete mit dem Kopf auf die Fernbedienung. »Können wir jetzt vielleicht fernsehen? Ich bin todmüde.«
Aber der Fernseher brachte auch keine Erlösung.
»Schalt um«, sagte Frank nach fünf Minuten Nachrichten. Natalie schaltete um.
»Wenn die City morgen dichtmacht«, sagte Frank, ohne seine Frau dabei anzusehen, »dann bricht dieses ganze Land zusammen. Schluss, aus, Ende.«
Oben brüllte das Baby.
In den nächsten paar Tagen gelang es Natalie nur, drei weitere Sätze zu ihrer Sozialkritik hinzuzufügen:
Mir ist klar, dass ich nicht dem Bild entspreche, das den meisten vor Augen steht, wenn sie an »Banker-Ehefrauen« denken. Ich bin eine bestens ausgebildete Schwarze. Ich arbeite erfolgreich als Anwältin.
Sie schob dieses langsame Vorankommen auf Spike, dabei schlief der Kleine ausgesprochen viel, und Natalie hatte ihre polnische Hilfe, Anna. Sie hatte jede Menge Zeit. Eine Woche später, als sie ihre Mails checkte, fiel ihr das Dokument auf dem Desktop ins Auge, und sie verschob es stillschweigend in einen Winkel ihres Computers, wo sie nicht mehr so leicht darüber stolpern konnte. Im Wohnzimmer sah sie fern und stillte ihr Kind. Es wurde immer früher dunkel. Die Blätter wurden braun, orange und goldgelb. Die Füchse kreischten. Manchmal sah sie nach den Anzeigen. Die jungen Männer im Fernsehen räumten ihre Schreibtische leer. Auf dem Weg nach draußen hielten sie ihre Kartons vor sich wie einen Schild.
164. Halbe Sachen
Jedes Mal, wenn sie wieder anfing zu arbeiten, war die Anforderung ganz klar umrissen: alles so hinkriegen, als hätte sie nie ein Kind gekriegt. Auf den Frauenseiten der Wochenendbeilagen wurde viel über dieses Phänomen geschrieben, und Natalie las das Material mit großem Interesse. Zeitmanagement, das war der Schlüssel. Glücklicherweise war Zeitmanagement Natalies Stärke. Sie stellte fest, dass sich durch einen schlichten Mangel an Entschiedenheit eine ganze Menge Zeit sparen ließ. Sie hatte keine dogmatischen Ansichten dazu, was kleine Kinder essen, anziehen, anschauen oder anhören sollten oder welche Sorte Trinkgefäß sie verwendeten, um Milch daraus zu trinken oder etwas anderes als Milch.
Manchmal allerdings begegnete sie sich zu ihrer Überraschung selbst am Ende der dunklen Gasse. Sie verfiel in Panik und Wut, wenn sie ihre verwöhnten Kinder auf dem Boden hocken und auf dem Handy ihres Vaters alte Bilder anschauen sah, bewegte Bilder von sich selbst, eine Form der Selbsterfahrung, die es in der Geschichte der Menschheit – außer im Traum und im Wunder – bis vor sehr kurzer Zeit praktisch nicht
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