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London NW: Roman (German Edition)

London NW: Roman (German Edition)

Titel: London NW: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zadie Smith
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den Öffner, und die Tür sprang sofort auf. Kurz blieb sie stehen, um sich die künstlichen Blumen im Flur anzuschauen, die erstaunlich echt aussahen. Vierter Stock, kein Aufzug. Natalie Blake blieb lange vor der Wohnungstür stehen. Um überhaupt klingeln zu können, war ein Manöver notwendig, das sie später für sich »den eigenen Körper verlassen« nannte. Durch den Glaseinsatz sah sie einen pfirsichfarbenen Teppich und pfirsichfarbene Wände und ein kleines Stück Wohnzimmer, wo ein weiches weißes Ledersofa mit Beinen und Armlehnen aus Walnussholz stand. Dem Sofa gegenüber sah sie einen passenden Sessel mit großem Fußschemel im selben Stil. Auf dem Tisch in der Diele lag eine Zeitung. Sie versuchte zu erkennen, welche es war, und kam zu dem Schluss, dass es der Daily Express sein müsse, teilweise verdeckt von einem altmodischen, ebenfalls cremefarbenen Telefon mit Wählscheibe und Messinghörer. Sie dachte an die Anzeige, die das Paar als »gehoben« bezeichnet hatte. Zwei Körper näherten sich der Tür. Sie sah sie deutlich durch den Glaseinsatz. Viel älter, als sie angegeben hatten. Mitte sechzig. Scheußliche, plissierte weiße Haut mit bläulichen Adern. Alle suchen eine schwarze Sie, 18–35. Wozu? Was glauben die, was wir können? Was haben wir, das die wollen? Sie hörte sie noch rufen: Warte doch!
175. Golders Green-Krematorium
    Es fiel Natalie Blake nicht schwer, etwas Passendes für eine Beisetzung zu finden. Die meisten ihrer Kleider hatten ein gewisses Friedhofsflair. Schwieriger war es, die Kinder anzuziehen, und so machte sie das zu ihrer zentralen Sorge, knallte mit Schranktüren und warf alles, was im Weg war, einfach auf den Boden.
    Im Wagen fragte ihr Mann, Frank De Angelis: »War er ein guter Mensch?«
    »Ich weiß nicht, was das ist«, erwiderte Natalie Blake.
    Als sie auf dem Parkplatz hielten, zeigte der Rückspiegel nicht ein Gesicht, das sie nicht kannte, auch wenn ihr die Namen dazu fehlten. Leute aus Caldwell, Leute von der Brayton, Leute aus Kilburn, Leute aus Willesden. Alle standen für eine bestimmte Phase. Sicher war auch sie aus deren Sicht nicht mehr als eine Art narzisstischer Zeitmesser. Und dennoch. Sie stieg aus dem Wagen auf den Vorplatz. Eine Freundin ihrer Mutter fasste sie am Arm. Sie näherte sich dem Erinnerungsgarten. Ein Mann, der die Mietervereinigung von Caldwell leitete, legte ihr seine große Hand in den Nacken und drückte zu. War es möglich, keine Geringschätzung für die Menschen zu empfinden, die die Zeit für einen maßen? War es vielleicht auch möglich, sie zu lieben? »Alles klar, Keisha?« »Natalie, schön, dich zu sehen.« »Alles klar, Kindchen?« »Miss Blake, lange nicht gesehen.« Dieses seltsame Nicken, mit dem man einander auf Beerdigungen zur Kenntnis nimmt. Colin Hanwell war nicht einfach nur tot, die hundert Leute, die dieselben paar Quadratkilometer Straße mit ihm geteilt hatten, nahmen diese Verbindung, so intim wie zufällig, so eng wie distanziert, jetzt zur Kenntnis. Natalie hatte Colin nie richtig gekannt – es war gar nicht möglich gewesen, Colin richtig zu kennen; aber sie wusste, was es hieß, von Colin zu wissen, Colin als Gegenstand des Bewusstseins zu haben. Das ging den anderen hier genauso.
    Die Leute redeten. Die Leute sangen. And did those feet in ancient times . Natalie musste wiederholt nach draußen, weil ihre beiden Kinder nacheinander Theater machten. Schließlich öffnete sich der Vorhang, und der Sarg verschwand. Dusty Springfield. Manches erfährt man erst über jemanden, wenn er tot ist. Als die Trauergemeinde nach draußen strömte, stand Leah mit ihrer Mutter am Eingang. Sie trug eine scheußliche Kombination aus langem schwarzem Rock und schwarzer Bluse, die ihr jemand geliehen haben musste. Natalie hörte, wie wohlmeinende Fremde Leah ihre weitschweifigen, nutzlosen Erinnerungen aufbürdeten. Geschichten erzählten. »Danke, dass ihr gekommen seid«, sagte Leah mechanisch zu jedem, der vorbeiging. Sie war sehr bleich. Keine Geschwister. Keine Cousins und Cousinen. Nur Michel zur Unterstützung.
    »Oh, Lee«, rief Natalie Blake, als sie an der Reihe war, und schluchzte und umarmte ihre gute Freundin Leah Hanwell ganz fest. Hätte bloß jemand Natalie Blake zwingen können, an jedem Tag ihres Lebens auf eine Beisetzung zu gehen!
176. Unbewusst
    Cranley Estate in Camden. Mehr N als NW. Ein magerer Mann, der sich » JJ « nannte und eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrem Onkel Jeffrey hatte. Und eine junge

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