London NW: Roman (German Edition)
bereit war, mir künstliche Grenzen zu setzen«, erklärte Natalie Blake dem Kollektiv junger schwarzer Frauen, »war ich in der Lage, mein Potenzial voll zu entfalten.«
178. Turmfrisur
Die schöne Stimme drang aus den Lautsprechern des Cafés im Park. Natalie Blake und ihre Freundin Leah Hanwell waren schon vor langer Zeit übereingekommen, dass diese Stimme nach London klang – vor allem nach seinen nördlichen und nordwestlichen Gebieten –, als wäre die Besitzerin eine Art Schutzheilige ihrer Viertel. Kann man eine Stimme überhaupt besitzen? Natalies Tochter und viele andere Kinder hüpften herum und tanzten zu dem Song, während ihre Eltern dezent im Takt dazu nickten. Die Sonne schien. Leider war Leah Hanwell gewohnheitsmäßig spät dran, und kurz darauf war der Song vorbei, und Naomi brüllte wegen irgendetwas, und Spike war aufgewacht, und Leah hatte die perfekte Inszenierung von Lebensfreude verpasst – vor allem von Familienlebensfreude. »Im Grunde ist sie deprimiert«, sagte Natalie zu Frank, während sie warteten. »Sie glaubt, ich merke das nicht. Ich merke es aber. Kompletter Stillstand. Stagnation. Sie kann sich nicht mehr aus dem Loch herauswühlen, in dem sie steckt.« Doch kaum hatte sie es ausgesprochen, sah sie sich auch schon mit der Möglichkeit konfrontiert, dass dieses Urteil nur dem Song entstammte, eigentlich nur eine weitere Strophe war, die Natalie aus einer plötzlichen Laune heraus dazugedichtet und mit der sie sich blamiert hatte, indem sie sie laut sagte. Frank sah von seiner Zeitung auf und erwischte ihre im Zustand des Entsetzens erstarrte Miene. »Leah und Michel sind glücklich wie nur was«, sagte er.
Einige Zeit später sah Natalie die Sängerin bei einem Fernsehinterview: »Als ich klein war, habe ich mich nie für was Besonderes gehalten. Ich dachte immer, singen können alle.« Ihre Stimme war noch dasselbe Wunder, das Natalie damals durchs offene Fenster eines Pubs in Camden gehört hatte. Doch die Frau, die diese Stimme besaß oder nicht besaß, war praktisch inexistent. Natalie starrte auf dieses x-beinige kleine Mädchen, kaum vorhanden, fast ein Nichts.
179. Aphorismus
Wie schwer Frauen sich doch mit ihren Gaben tun! Sie strafen sich selbst dafür, sie mitbekommen zu haben.
180. Mit allen Schikanen
Im schönen Primrose Hill. Nach langen Verhandlungen per Mail war schließlich ein Nachmittagstermin vereinbart worden: fünfzehn Uhr. Die Frau öffnete und sagte: Puh! Haare geglättet, Bademantel, hohe Absätze, schön und unverkennbar afrikanisch. Ihr ging es vor allem darum, den Arm um Natalie zu legen und sie in das riesige Haus zu schaffen, ohne dass es jemand mitbekam. Kleidungstechnisch blieb Natalie ihrem Thema treu: Goldkreolen, Jeansrock, Wildlederstiefel mit Troddeln, das Haargummi mit den schwarz-weißen Würfeln und die Arbeitskleidung in einem Rucksack auf dem Rücken. Als sie sich in einem hohen goldgerahmten Spiegel in der Diele sah, fand sie sich sehr überzeugend. Sie war zu diesem Zeitpunkt fest entschlossen. Immerhin waren sie attraktiv. Und Natalie Blake hielt Attraktivität immer noch für entscheidend.
Utopia Green (matt) von Farrow & Ball an den Dielenwänden. Afrikanische Wandskulpturen. Modern und minimalistisch. Eine gerahmte goldene Schallplatte. Ein gerahmtes Bild von Marley. Die gerahmte Titelseite einer Zeitung. Alles so fürchterlich »geschmackvoll«. Natalie Blake blickte auf und sah den Ehemann oder Freund oben an der Treppe. Er sah auffallend gut aus, rasierter Kopf, edle Züge. Ein schönes Paar, sie ähnelten einander. Wie aus der Werbeanzeige einer amerikanischen Lebensversicherung. Er lächelte Natalie an und zeigte Zahnarztkunst im Überfluss, strahlend und absolut gerade. Seidener Morgenmantel. Schleimig. Wir freuen uns so, dass du da bist, Keisha, wir hatten ja fast gedacht, du bist nicht echt. Kannst du fassen, dass sie wirklich echt ist? Zu schön, um wahr zu sein. Komm rauf zu mir, sista, damit ich dich besser anschauen kann. Soulmusik von oben. Ein Kinderhochstuhl von Bloom, das Sondermodell von 2009, wie eine in der Küche schwebende Raumstation. Auf dem Küchentisch ein aufgeklapptes MacBook Air. Auf der Treppe, zugeklappt, ein älteres MacBook. Er streckte die Hand aus. Schön habt ihr’s hier, sagte Natalie Blake. Du bist schön, sagte er. Natalie spürte die Hand seiner Frau oder Freundin am Hintern.
Oben erwartete sie ein Bett im Kolonialstil, wie es vor ungefähr fünf Jahren Mode war. Der Schuhschrank stand
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