London NW: Roman (German Edition)
Iranerin mit dem ebenso unwahrscheinlichen Spitznamen »Honey«. Sie waren Anfang zwanzig und völlig hinüber. Natalie Blake vermutete Crack, aber es konnte ebenso gut Meth oder etwas ganz anderes sein. Honey fehlte ein Zahn. Das Wohnzimmer verdiente den Namen kaum. Ein scheußlich schmutziger Futon, ein Fernseher, der die ganze Zeit lief. Die ganze Wohnung stank nach Dope. Sie saßen auf Sitzsäcken, halb benebelt, und schauten Deal or No Deal . Nervös wirkten sie nicht. JJ sagte: Chillen wir erst mal ein bisschen. Ich bin grad heimgekommen, ich bin fix und alle. Er bot keinen Stuhl an. Entgegenkommend wie immer, setzte Natalie Blake sich zwischen die beiden auf den Boden.
Sie versuchte, sich auf die Sendung zu konzentrieren, die sie noch nie gesehen hatte. Ihr Handy piepste ständig, eine SMS aus dem Büro nach der anderen. JJ hatte eine komplizierte Verschwörungstheorie, was die Anordnung der Koffer betraf. Es blieb ihr nichts weiter übrig, als den Joint zu nehmen und sich dem Dope zu überlassen. Bald verlor sie jedes Zeitgefühl. Irgendwann war das Fernsehgucken vorbei, und JJ spielte ein Videospiel: Kobolde und Schwerter und irgendwelche Elfen, die blöd daherredeten. Natalie entschuldigte sich, um aufs Klo zu gehen. Sie erwischte die falsche Tür, sah ein Bein, hörte einen Aufschrei. Das ist Kelvin, sagte JJ, er pennt grad hier. Arbeitet nachts.
Die Klobrille war durchsichtig und mit Goldfischen bedruckt. Das Wasser aus dem Wasserhahn war braun. Head & Shoulders. Radox-Duschgel. Beides leer.
Natalie ging wieder in den Wohnraum. JJ redete auf den Bildschirm ein. Jetzt sag mir halt, wo der verfickte Kornspeicher ist. Eine Bauersfrau lächelte geheimnisvoll zurück. Natalie versuchte, Konversation zu machen. Ob er so was schon öfter gemacht habe? Ein paarmal, sagte er, wenn’s nix Besseres zu tun gab. Normalerweise sind die aber irre hässlich, und ich schmeiß sie gleich wieder raus, bevor sie reinkommen. Oh, sagte Natalie. Sie wartete. Nichts. Honey wandte sich gelangweilt an ihren Gast. Was machst du denn so, Keisha? Scheinst ja ’ne Nette zu sein. Ich bin Friseuse, sagte Natalie Blake. Oh! Hast du gehört, sie macht Haare. Das ist aber schön. Ich bin aus dem Iran. JJ verzog das Gesicht: Die Achse des Bösen! Honey gab ihm einen Klaps, aber einen liebevollen. Sie streichelte Natalies Gesicht. Glaubst du an Aura, Keisha?
Ein neuer Joint wurde gebaut und geraucht. Irgendwann fiel Natalie ein, dass Frank auch länger arbeitete. Sie smste Anna und überredete sie mit Freizeit und einem höheren Stundensatz, bis elf zu bleiben und die Kinder ins Bett zu bringen. JJ hatte eine Burg erreicht, wo eine neue Liste mit Aufgaben auf ihn wartete. Honey überlegte laut, wo denn das MDMA- Pulver sein könnte, das sie irgendwo in einem Kaugummipapier deponiert hatte. Natalie sagte: Ich glaube, das wird nichts mehr, oder? JJ sagte: Glaub ich auch nicht, ehrlich gesagt.
177. Neid
Leah wollte, dass Natalie Blake bei einer von Leah unterstützten Benefizversteigerung zugunsten eines Kollektivs junger schwarzer Frauen einen Vortrag hielt. Sie lag ihr damit in den Ohren. Aber der Saal, den sie für die Veranstaltung angemietet hatten, lag südlich vom Fluss.
»Ich geh nicht in den Süden«, protestierte Natalie Blake.
»Es ist aber doch für einen richtig guten Zweck«, beharrte Leah Hanwell.
Natalie Blake bedankte sich bei Leah für die Einführung und trat ans Rednerpult. Sie sprach über Zeitmanagement, darüber, sich Ziele zu setzen, engagiert zu arbeiten, sich selbst und den Partner zu respektieren, und darüber, wie wichtig eine gute Ausbildung war. »Alles, was allein auf dem Körperlichen basiert, ist zum Scheitern verurteilt«, las sie ab. »Um zusammenzubleiben, muss man auf dieselben Ziele hinarbeiten.« Irgendwann würde sie etwas Ähnliches wohl zu Leah sagen müssen. Jetzt noch nicht, aber irgendwann. Sie würde es natürlich entsprechend abmildern. Arme Leah.
Zwischen Seite zwei und dem Anfang von Seite drei musste sie wohl auch weiter laut abgelesen und sich verständlich gemacht, den Anschein eines ununterbrochenen roten Fadens erweckt haben – zumindest schaute niemand im Publikum, als wäre sie nicht ganz dicht –, und dennoch schweiften ihre Gedanken zu obszönen Szenen ab. Sie fragte sich, was Leah und Michel, die praktisch nie die Finger voneinander lassen konnten, wohl in der Intimität ihres Schlafzimmers trieben. Körperöffnungen, Stellungen, Höhepunkte. »Und gerade, weil ich nie
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