London NW: Roman (German Edition)
weil ihr Laylas Sorgen so kurzsichtig, so beschränkt vorkamen. Jetzt, wo Natalie selbst Kinder hatte, dachte sie sich, dass sie eigentlich gern wieder regelmäßig mit Layla lunchen würde. Sie würde Layla so viel erzählen können, was sie sonst mit niemandem besprach. Also wurde ein Lunch verabredet. Und nun merkte sie, dass sie plötzlich sehr schnell redete und Laylas Gastfreundschaft in diesem wunderschönen Soul-Food-Restaurant an der Camden High Street weidlich ausnutzte. In gewisser Weise konnte sie gar nicht schnell genug reden, um all das loszuwerden, was sie zu sagen hatte.
»›Jetzt muss ich endlich nicht mehr so tun, als ob ich mich für die Nachrichten interessiere‹«, zitierte Natalie Blake eine andere Frau und aß dabei einen kleinen Chinalöffel voll Krabben in Kokosmilch. »Und ich saß da in einem ganzen Kreis solcher Freaks und dachte mir: Ich gehör hier nicht hin. Wo ist der Ausgang? Ich brauche Menschen, mit denen ich auch tanzen gehen kann.« Draußen spielte ein vorbeifahrendes Auto »Billie Jean«.
»Ich geh mit dir tanzen, Natalie.«
»Herzlichen Dank! Irgendwo in Farringdon gibt es so Old-School-Hip-Hop-Abende, hat mir mein Bruder erzählt. Wir könnten nächsten Samstag gehen. Ich frage auch noch meine Freundin Ameeta. Ist doch deutlich besser als ›Old Mac Donald hat ’ne Farm‹ zu singen.«
»Ich mag diese Krabbelgruppen. Ich war da früher ständig.«
»Die nicht. Die ist ganz edel. Am allerwenigsten kann ich es leiden, wenn sie ...«, setzte Natalie an und machte fast den ganzen Hauptgang so weiter. Männer brachten Bowle, sie brachten Bowle. Ihr Glas war nie halb voll oder halb leer, sondern füllte sich ständig. Männer brachten Bowle. Draußen spielte ein vorbeifahrendes Auto »Don’t Stop Till You Get Enough«.
»Was denn?«, fragte Natalie Blake. Eigentlich war sie viel zu betrunken, um wieder ins Büro zu gehen. Ihre Freundin Layla lächelte leicht betrübt. Sie schaute auf die Tischdecke.
»Nichts. Du hast dich überhaupt nicht verändert.«
Natalie schrieb gerade eine SMS an Melanie, um ihr zu sagen, dass sie jetzt wohl doch erst morgen wiederkommen würde.
»Stimmt. Ich muss ja auch kein anderer Mensch werden, nur weil ich ...«
»Du musstest immer allen klarmachen, dass du nicht so bist wie die anderen. Das machst du immer noch.«
Ein Kellner kam und bot Dessert an. Natalie Blake hatte eigentlich große Lust auf ein Dessert, glaubte aber plötzlich, keins mehr bestellen zu dürfen. Sie war starr vor Angst. Ihr Herz klopfte wie verrückt. Sie verspürte den Schulmädchendrang, Layla Dean, geborene Thompson, beim Kellner zu verpetzen. Layla ist gemein zu mir! Layla mag mich nicht! Draußen spielte ein vorbeifahrendes Auto »Wanna Be Startin’ Somethin’«.
Layla sah den Kellner nicht an, und nach kurzer Zeit verschwand er wieder. Sie drehte eine dicke weiße Serviette zwischen den Händen.
»Selbst als wir damals unsere Lieder aufgeführt haben, da warst du zwar bei mir, aber gleichzeitig auch gar nicht bei mir. Angeberisch. Falsch. Aufgesetzt. Ständig hast du mit den Jungs im Publikum geflirtet und so.«
»Layla, was redest du denn da?«
»Und das machst du immer noch.«
170. Rollenspiele
Tochter-Rolle. Schwester-Rolle. Mutter-Rolle. Ehefrau-Rolle. Anwältinnen-Rolle. Reichen-Rolle. Armen-Rolle. Briten-Rolle. Jamaika-Rolle. Jede Rolle verlangte eine andere Kostümierung. Aber wenn sie die diversen Haltungen nebeneinanderstellte, hatte sie Mühe, sich klar zu werden, welche am authentischsten war oder vielleicht auch nur am wenigsten unauthentisch.
171. Me, myself and I
Natalie setzte Naomi in den Kindersitz und schnallte sie fest. Natalie setzte Spike in den anderen Kindersitz und schnallte ihn fest. Natalie stieg in das riesige Auto. Natalie schloss alle Fenster. Natalie schaltete die Klimaanlage ein. Natalie legte Reasonable Doubt in den CD -Spieler. Natalie instruierte Frank, leise zu stellen, sollte es zu unerhörten Kraftausdrücken kommen.
172. Boxen
Auf dem Weg die Kilburn High Road entlang hatte Natalie Blake den starken Wunsch, ins Leben anderer Leute zu schlüpfen. Es war nicht abzusehen, wie dieser Wunsch praktisch zu erfüllen wäre und was das überhaupt heißen sollte. »Schlüpfen« ist unpräzise formuliert. Mit dem somalischen Jungen nach Hause gehen? Mit der alten Russin an der Bushaltestelle vor dem Poundland warten? Sich zu dem ukrainischen Gangster an den Cafétisch setzen? Insidertipp: Viele der fesselnderen Gespräche, die
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