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London NW: Roman (German Edition)

London NW: Roman (German Edition)

Titel: London NW: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zadie Smith
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Euphoria-Massagen. Wie schön, wenn man so viel von der Umgebung sieht. Das kann unmöglich noch Willesden sein. Fühlt sich schon mindestens wie Neasden an.
    – Die Kirche macht es doch erst zu Willesden. Sie steht für die Gemeinde Willesden.
    – Okay, aber wo ist sie? Wie kommt Pauline hier überhaupt hin?
    – Mit dem Bus, nehme ich an. Keine Ahnung.
    – Was für ein Albtraum.
    Die Straße macht einen Bogen. Sie finden sich auf einem schmalen Streifen Asphalt wieder, an dessen Ende ein Poller steht, und halten die Kinder fest, während zu beiden Seiten Autos vorbeirasen. Rechts von ihnen ein zwangsvollstrecktes Einkaufszentrum und ein fehlgeplanter Büroblock, leer, jedes zweite Fenster eingeschlagen. Links ein grasbewachsenes Inselchen, das sich an die zweispurige Schnellstraße schmiegt. Als grüne Oase gedacht, wird es als Müllkippe missbraucht. Eine patschnasse Matratze. Ein umgekipptes Sofa mit zerschnittenen Polstern und scheußlichen Flecken. Ausgefallenere Gegenstände, die von eilig aufgegebenen Leben berichten: ein halbes Mofa, eine enthauptete Stehlampe, eine Autotür, ein Hutständer, so viele Linoleumrollen, dass sie für einen ganzen Badboden reichen würden.
    In einer Verkehrslücke flitzen sie wie ein einziges aufgescheuchtes Tier über die breite Straße und lassen sich dann los, keuchend, die Hände auf die Knie gestützt. Leah, die Anweisung hat, es achtundvierzig Stunden »ruhig angehen« zu lassen, spürt leichten Schwindel im Kopf. Sie dreht sich weg, hebt langsam den Kopf und entdeckt sie als Erste: altertümliche Zinnen und ein Kirchturm, die gerade so zwischen den Ästen einer gewaltigen Esche zu sehen sind. Nur zwanzig Meter weiter offenbart sich die Szenerie in ihrer ganzen Unwahrscheinlichkeit. Eine kleine Dorfkirche, eine mittelalterliche Dorfkirche, gestrandet auf diesem Viertelhektar inmitten eines Kreisverkehrs. Aus Zeit und Raum gefallen. Ein Kraftfeld heiterer Ruhe umgibt sie. Vor dem Ostfenster ein Kirschbaum. Ein niedriges Backsteinmäuerchen ringsherum markiert den alten Grenzverlauf, kaum abschreckender als ein Schutzwall aus Gänseblümchen. Die Türen der Familiengrüfte sind eingetreten. Viele Grabsteine bunt verziert. Leah, Nat und die Kinder passieren das Friedhofstor, pausieren unter dem Glockenturm. Das blaue Zifferblatt blinkt in der Sonne. Es ist halb zwölf am Vormittag, in einem fernen Jahrhundert, einem fernen England. Nat wischt sich mit einem Windeltuch den Schweiß von der Stirn. Die Kinder, bis dahin laut und quengelig in der Hitze, werden still. Durch den schattigen Friedhof windet sich ein Weg, die viktorianischen Grabsteine weisen nur die jüngste Schicht von Toten aus. Natalie steuert den Buggy über den holprigen Untergrund.
    – Irre. Die habe ich noch nie gesehen. Dabei bin ich hier schon hundert Mal vorbeigefahren. Hast du noch das Wasser-Dings, Lee? Wahrscheinlich gefällt’s Pauline deswegen hier. Weil sie so alt ist. Weil man dem Alten noch trauen kann.
    Leah verschränkt die Arme eng vor der Brust und wird zu ihrer Mutter, setzt die Miene ihrer Mutter auf: die nach unten gezogenen Mundwinkel, die flatternden Lider, in ständiger Abwehr aller Stäubchen dieser Welt und deren Bestreben, Pauline in die Augen zu fliegen. Natalie, mitten im Schluck, prustet heftig los, bekleckert sich mit Wasser.
    – Also, diese neumodischen Kirchen sind ja wirklich nichts für mich. Darum reiße ich mich wirklich nicht. Den Alten kann man wenigstens noch trauen, das steht fest.
    – Hör auf, sonst ersticke ich noch. Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht und nicht mal gewusst, dass es so einen Ort gibt. All die Jahre mit Marcia in dieser Sardinenbüchse von Pfingstgemeinde, dabei hätten wir die ganze Zeit hier sein können! Hör mir doch zu, Keisha. Ich will doch nur, dass der Geist des Herrn uns alle erfüllt.
    Über ihre Mütter können sie sich lustig machen, doch den ernsten Zauber dieses Orts können sie nicht durchbrechen. Die Kinder tappen zögernd zwischen den Gräbern herum, wollen wissen, ob da unten in echt tote Menschen liegen. Leah beschleunigt, verlässt den Weg und stapft durch das hohe Gras, während Nat mit ihren Sprösslingen über den feinen Unterschied zwischen den kürzlich Verstorbenen und den längst Verstorbenen debattiert. Leah streckt die Arme nach beiden Seiten aus. Mit den Fingern streift sie die Spitzen der größeren Grabsteine, eine verfallene Steinurne, ein bröckelndes Kreuz. Bald ist sie hinter der Kirche. Ringsum drängt

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