Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
London NW: Roman (German Edition)

London NW: Roman (German Edition)

Titel: London NW: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zadie Smith
Vom Netzwerk:
am Lesen. Darum seid ihr Kinder auch so schlau. Sie haben mich immer ›Professor‹ genannt. Alle. Darum war Jackie überhaupt hinter mir her. Die wollte hier rein.« Lloyd tippte sich an die Schläfe und machte dabei ein Gesicht, als wären die Mysterien dahinter von einer selbst für ihren Eigentümer erschreckenden Intensität. »Wie ’n Vampir. Hat mir das Wissen rausgesaugt.« Felix nickte. Er versuchte, sich auf das Foto zu konzentrieren. Fragte nach den Namen von drei anderen Männern, die auf dem Bild um einen Kartentisch saßen, rauchten und Blackjack spielten. »Zwei von den Jungs wurden wegen Mord verknackt. Der da mit dem Mini-Gesicht, weiß nicht mehr, wie er hieß, und er hier, Antoine Greene. Harte Zeiten waren das! Ihr habt ja keine Ahnung mehr. Die Leute heutzutage ... Barnes, dieser Schwachkopf. Was labert der den ganzen Tag? Von wegen ›Kampf‹! Wer hat denn die Dreizimmerwohnung? Und in zwei Jahren ’ne volle Rente von der Post. Von dem Schwachkopf muss ich mir nichts erzählen lassen. Ich hab den Kampf erlebt!« Lloyd schlug zur Bekräftigung mit der Faust gegen die Wand, und Felix’ Gedanken folgten dem Nachhall nach nebenan. »Barnesy ist korrekt, Mann. Das ist ein guter Typ«, entgegnete er automatisch, um sich bestimmte Erinnerungen zu bewahren. Mit Phils Töchtern bei den Mülltonnen spielen, Phils Fossiliensammlung bewundern, auf Phils Balkon Senfkresse auf Watte ziehen. Als Kind hatte Felix die Vorstellung, die Welt der Erwachsenen wäre voll von Männern wie Phil Barnes. Die wären in England so verbreitet wie Wildblumen. »Schwachkopf«, wiederholte Lloyd und entdeckte seine Brille zwischen zwei Sofakissen.
    Felix übernahm das Kommando beim Umblättern und landete rasch bei Brother Raymond, diesmal klar zu erkennen, wie er beim Wiederaufbau der Außenmauer half. »Da sieht man die Holloway Road, siehst du? Da, wo jetzt das Jobcenter ist – da war das.« Brother Raymond entpuppte sich als kleiner Mann mit gepflegtem Trotzkisten-Bart. »Du hast doch gesagt, er wäre Priester gewesen.« »War er auch!« Felix tippte mit dem Finger auf die Bildunterschrift: »›Selbst ernannter Sozialarbeiter‹.« »Ich sag dir was: Der Mann war Priester. Im Geist war er Priester.« Felix gähnte nicht allzu dezent. Lloyd regte sich zusehends über die Bildunterschriften auf. »Ja, schon klar, von mir aus, das ist Ann. Und? Ann Schießmichtot – Mann, das ist dreißig Jahre her! Mit Ann hatte jeder was laufen. Die war halt leicht zu haben! Was ist dabei? Wer hat denen überhaupt erlaubt, so viele Fotos zu machen? Wir waren ja wohl kein Zoo!« Felix registrierte den typischen Stimmungsverlauf des Kiffers. Nebenan in der Küche pfiff ein altmodischer Blechwasserkessel auf dem Herd. »Geh Tee machen, Fee.«
    Als er den Küchenschrank öffnete, war das Honigglas umgekippt, und die Teedose klebte am Brett fest. Er ging mit einem feuchten Küchentuch ans Werk. Lloyd rief durch die dünne Wand herüber: »So ’n kleiner Weißer – ich erinner mich genau an den! Klick klick klick, ging uns ziemlich auf den Zeiger, ich kann dir sagen. Einer von denen, die unbedingt mitkämpfen wollen, auch wenn’s gar nicht ihr Kampf ist. Der Schwachkopf von drüben ist genauso – genau die gleiche Gesinnung. Wir hatten doch genug mit unserem eigenen Kram zu tun. Manchmal hat der echt Glück gehabt, dass er noch lebend rausgekommen ist, verstehst du. Für die Jungs war das nämlich kein Spiel, aber überhaupt nicht. Von ’nem Buch war nie die Rede, auch nicht von Geld. Hätten die vom Bezirk ja auch wissen wollen, oder? Angenommen, du machst Fotos, Felix. Du machst Fotos von jemandem, ja? Das ist dessen Copyright!« Mit geröteten Augen erschien Lloyd in der Küchentür. »Das ist sozusagen dessen Seele. Wie kann man die nach englischem Gesetz einfach verkaufen? Ist nicht drin. In einem öffentlichen Gebäude, das dem Bezirk gehört? Kannste vergessen. Muss man nur in die Bibliothek gehen und sich die Gesetzbücher durchlesen. Wo ist mein Geld? Der verkauft Fotos von mir im Internet? Von mir? Kannste vergessen. Wo bleiben meine Rechte nach englischem Gesetz? Mach mir ’n bisschen Honig in meinen.«
     
    Von der Tür aus beobachtete Felix, wie Lloyd es sich mit seinem Buch auf dem alten, grauen Velourssofa bequem machte, einen kleinen Stapel Kekse auf dem Glastisch zurechtlegte, den Tee daneben, den Joint so elegant auf der Kante platziert, dass der Tisch verschont blieb, während die Asche auf den Teppich krümelte.

Weitere Kostenlose Bücher