London NW: Roman (German Edition)
Einband, groß wie ein Atlas. GARVEY HOUSE: Ein Porträt in Bildern. Felix schlug wahllos eine Seite auf, russisches Roulette. Keine Kugel: ein schüchternes Pärchen, frisch verheiratet, mager, vom Aussehen eher ländlich, mit unordentlichen Afros und Aknenarben, in fremden, viel zu großen Hochzeitskleidern. Keine Hochzeitsgäste, zumindest nicht auf dem Foto. Sie feierten allein mit einer halb vollen Flasche Martini Rosso. Er biss sich auf die Lippe, blätterte weiter. Vier ansehnliche sistas mit Kopftüchern, die mit einem Eimer frischer Farbe – Farbton unbekannt, alles in Schwarz-weiß – Graffiti übermalten. Im Hintergrund kaputte Stühle und eine Matratze und ein junger Typ, der einen Joint rauchte. Felix hörte die Toilettenspülung. Lloyd kam wieder ins Zimmer, schniefend und verdächtig munter. Er zog einen frisch Gedrehten aus seiner Schlafanzughose und zündete ihn an. »Na dann. Sehen wir’s uns mal an.«
Dies ist der fotografische Bericht einer faszinierenden Phase in der Geschichte Londons. Ein Zwischending aus besetztem Haus, Rehabilitationszentrum und Kommune, bot Garvey House schutzbedürftigen jungen Erwachsenen Zuflucht, die am Rand
»Lies mir keinen Scheiß vor, den ich schon weiß. Ich brauch mir doch von so ’m Typ nicht erzählen lassen, was ich schon weiß. Wer war dabei, der oder ich?« Das Buch blätterte von selbst zu der Seite zurück, die Felix eben aufgeschlagen hatte. »Die Mädels hab ich alle gekannt, Mann. Das ist Anita, Prissy, und das ist Vicky, Queen Vicky haben wir sie immer genannt; nur die da kenn ich nicht – hübsche Frauen waren das! Der kleine Scheißer da hinten ist Denzel Baker. Schlitzohr. Ich hab sie alle gekannt! Was steht da – meine Brille ist weg.«
Mai 1977: Die jungen Frauen waren ständig mit Streichen und Aufräumen beschäftigt. Häufig kamen die Männer spät nach Hause und verwüsteten alles, vielleicht aus Langeweile, vielleicht aber auch in der Hoffnung, dass Brother Raymond sie dafür bezahlen würde, alles wieder herzurichten.
»Ja, stimmt so weit. Brother Raymond kriegte Geld von der Bezirksverwaltung Islington, die haben wir ordentlich aufgemischt, das stimmt. Die Typen haben alles verwüstet, die Mädels haben versucht, aufzuräumen, ha! – kann ich nicht abstreiten. Nur deine Mutter nicht. Die hat mitverwüstet. Das war bei der Hitzewelle. Wir haben einfach die Tür rausgenommen. Es war viel zu heiß! Wo bin ich? Da müsst ich eigentlich auch mit drauf sein. Da ist Marilyn! Und – das ist Brother Raymond. Guckt in die falsche Richtung, aber das ist er.«
Felix schaute genauer hin. Ganz Garvey House versammelte sich auf dem betonierten Hinterhof. Barfüßige Kinder, Eltern, die selbst noch wie Kinder aussahen. Afros, Kopftücher, Canerows, komische, steife Perücken, ein großer, magerer, vergeistigt aussehender Rasta, auf einen langen Stock gestützt. Er konnte nicht sicher sagen, ob er sich daran erinnerte oder ob das Foto selbst die Erinnerung für ihn schuf. Er war erst acht gewesen, als die Bezirksverwaltung die Coopers umsiedelte. »Aber sieh dir mal an, Fee, wie mordscool wir alle aussehen! Sieh dir das Hemd an! So cool laufen die Kids heute nicht mehr rum. Jeans bis runter an die Poritze. Wir waren cool!« Das musste Felix zugeben: stilvoll ohne Geld, ohne irgendwelche Mittel. Nylonstrümpfe aus dem Wohltätigkeitsladen, mit Eleganz getragen. Ausgelatschte Clarks, die wie edelstes italienisches Schuhwerk daherkamen. BLACK POWER in meterhohen Lettern an die Hofmauer gesprüht. Seltsam, hier in Schwarz-Weiß bestätigt zu sehen, was er sein Leben lang für selbstherrliche Übertreibung gehalten hatte. »Ich such mal ein besseres von Brother Raymond. Was hab ich dir oft von Raymond erzählt! Das war ja alles nur wegen ihm.« Lloyd blätterte nachlässig durch die Hochglanzseiten, überschlug dabei ganze Serien von Fotos. Er hielt Felix den Joint hin; Felix lehnte stumm ab. Neun Monate, zwei Wochen, drei Tage. »Wenn Brother Raymond nicht gewesen wär, würd ich heute noch am King’s Cross pennen. Das war ein guter Mensch. Er hat nie ...« »Stopp!« Felix fuhr mit der Hand ins Buch.
Seite 37. Lloyd lang ausgestreckt auf einer fleckigen Matratze, in die Autobiografie von Malcolm X vertieft. Schlaghose und kleine, runde Brille, auch hier ohne Hemd. Kaum gealtert. Ohne die gewohnten Dreads, dafür mit einem gepflegten Afro, etwa zehn Zentimeter im Durchmesser. »Siehst du? Du glaubst mir ja nie: ständig am Lesen, ich war ständig
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