London NW: Roman (German Edition)
Kugel durch den Kopf.« Er lachte und nahm seine kleine runde Lennon-Brille ab, um sie mit dem T-Shirt zu säubern. Kurzsichtig musterte er Felix, mit einem Mal verletzlich wie ein Maulwurf. »Gehst du zum Karneval, Felix?«
»Ja. Wahrscheinlich. Aber morgen. Heute ist ja erst Samstag.«
»Natürlich, natürlich. Mein Gehirn lässt mich langsam im Stich. Was macht dein Vater? Ich habe ihn in letzter Zeit kaum noch gesehen.«
»Lloyd geht’s gut. Lloyd ist halt Lloyd.«
Es rührte Felix, dass Phil Barnes ihm gegenüber aus reiner Nettigkeit so tat, als würde er noch mit dem Mann reden, mit dem er seit dreißig Jahren Tür an Tür wohnte. »Das nenn ich mal eloquent, Felix! ›Ein Wort sagt mehr als tausend Bilder!‹ Genauso ist es doch, nicht? Wobei, wenn man mal drüber nachdenkt, ist es nicht eigentlich eher umgekehrt, streng genommen: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte?«
Felix zuckte liebenswürdig mit den Achseln.
»Achte gar nicht auf mich, Felix! Ich bin inzwischen auch so ein Tattergreis geworden. Es muss dich ja zu Tode langweilen, so jemandem zuzuhören. Ich weiß noch, als ich selbst jung war, da konnte ich es absolut nicht ausstehen, wenn die alten Leutchen jammerten und nicht mehr aufhörten. Lasst die Jugend doch einfach machen! Habt doch ein bisschen Vertrauen in sie! Lasst sie ihr eigenes Ding machen! Ich bin ja so ein kleiner Revoluzzer, weißt du, aber ich war auch ein Mod, damals. Auf meine Weise bin ich das immer noch. Aber heutzutage«, sagte Phil und legte eine Hand auf das Balkongeländer, »die jungen Leute heute haben einfach keine Hoffnung mehr, Felix, keine Hoffnung. Wir haben all ihre Ressourcen verbraucht, alles haben wir aufgebraucht, so ist es doch! Und jetzt halte ich dir schon wieder einen Vortrag. Lauf! Lauf, so schnell du kannst! Ich bin der ›graue Tsunami‹! Hast du das gelesen? Stand letzte Woche im Guardian. ›Grauer Tsunami‹. Da falle ich anscheinend drunter. Die Geburtenjahrgänge zwischen 1949 und 19-irgendwas. Lauter egoistische Babyboomer. Und deshalb haben wir auch sämtliche Ressourcen aufgebraucht. Als ich das Amy erzählt habe, meinte sie nur: ›Tja, und was hat es uns groß gebracht?‹ Fand ich sehr lustig. Sie hat nicht viel übrig für Politik, meine Amy, aber sie meint es gut. Sie meint es wirklich gut«, sagte Phil und schaute betreten, weil er viel zu weit vom Small Talk weg zum Kern der Dinge vorgedrungen war – das passierte ihm in letzter Zeit immer öfter – und jetzt versuchen musste, wieder zu den unbedeutenden Themen zurückzufinden. »Wie alt bist du denn jetzt, Felix?«
Felix boxte sich mit einer Faust in die wartende andere Hand. »Zweiunddreißig. Ich werd alt. Ist langsam echt nicht mehr witzig.«
»Tja, so ist es wohl. Deswegen jammern sie ja auch ständig, die alten Leutchen. Ich entwickele ja inzwischen ein gewisses Verständnis dafür, das kann ich dir flüstern – Schmerzen und Wehwehchen. Drück doch mal den Knopf, bitte. Kaputt? Na, dann nehmen wir eben die Treppe – ist eh gesünder. Diese Aufzüge sind wirklich eine Katastrophe.« Felix öffnete die Feuerschutztür und hielt sie für Barnesy auf. »Aber andererseits haben sie ja auch sonst kaum Möglichkeiten, die jungen Leute heutzutage, stimmt’s? Das ist das eigentlich Schreckliche, wenn du mich fragst. Das sollte mal jemand laut sagen.«
Gemeinsam gingen sie das enge Betontreppenhaus hinunter, Barnesy vorneweg, Felix hinterher. Ihn von hinten zu sehen, war wie eine Zeitreise: nicht dicker und nicht dünner, keine Veränderung im Kleidungsstil, kein Hinweis auf die zwanzig Jahre zwischen Damals und Heute. Das feine, blonde Haar ergraute auf subtil silbrige Weise, sodass es einfach nur noch blonder wirkte, und wie bei einem jungen Mann reichte es ihm immer noch bis knapp an die Schultern, die genau so rund und bärig und weich aussahen wie eh und je. Er trug eine aufgeknöpfte schwarze Weste mit einem Anti-Atomkraft-Button am Aufschlag, darunter ein weites weißes T-Shirt und hellblau verwaschene Stretchjeans. In seiner Gesäßtasche steckte ein Paar Hausschuhe, in die er schlüpfte, sobald er seine Runde beendet hatte. Oft sah man ihn in Rose’s Café an der High Road sitzen und mittagessen, in Hausschuhen. Felix hatte das immer für etwas exzentrisch gehalten, bis er einmal selbst die Post ausgetragen hatte, fünf Monate nur, um die Jahrtausendwende, und diese Arbeit anstrengender fand als alles, was er jemals gemacht hatte.
»Die sprechen immer von ›jungen
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