London NW: Roman (German Edition)
inzwischen war! Die Slogans waren alle schon in der Seele der Leute vorinstalliert. Kluger Gedanke: Tom beglückwünschte sich im Stillen dazu und verneigte sich tief, sarkastisch, samuraihaft, vor Felix. »Besten Dank, Felix«, sagte er. »Das werde ich mir merken. Das beste Ich, das man sein kann. Persönlichkeit ist gleich Ewigkeit. Du scheinst ja voll den Durchblick zu haben.« Er hob sein leeres Glas, um mit Felix anzustoßen, doch auch Felix war Ironie nicht fremd, und er ließ sein Glas, wo es war.
»Schein ist nicht gleich Sein«, sagte er leise und sah weg. »Hör mal ...« Er zog einen zusammengefalteten Umschlag aus der Gesäßtasche. »Ich hab noch was zu erledigen, also ...«
Der Junge merkte, dass er zu weit gegangen war. »Klar. Sag mal – wo waren wir eigentlich? Du musst mir ein Angebot machen.«
»Und du musst mir erst mal ’nen vernünftigen Preis nennen, Mann.«
Erst jetzt wurde Tom klar, dass ihm Felix’ übertriebene Vertraulichkeit gar nicht so zuwider gewesen war, wie er gedacht hatte. Im Gegenteil: Jetzt noch »Mann« genannt zu werden, da ihre Bekanntschaft schon so weit fortgeschritten war, kam ihm vor wie ein trauriger Schritt zurück. Warum kann ich mich eigentlich immer nur über etwas freuen, wenn es schon vorbei ist, überlegte Tom und versuchte, das Zitat aus einem französischen Text geistig dingfest zu machen, das genau diese Frage beschrieb und hilfreicherweise auch gleich die Antwort darauf gab. Candide? Proust? Warum hatte er sein Französisch eigentlich so schleifen lassen? Er musste an père Mercer denken, heute früh am Telefon: »Dein Problem ist, Tom, dass du einfach nichts durchziehst. Das war schon immer dein Problem.« Und natürlich schlug Sophie im Grunde in dieselbe Kerbe. Manche Tage waren einfach auf deprimierende Weise thematisch konsistent. Vielleicht teilte sich ja demnächst die Wolke da oben, und eine riesige Zeichentrickhand tauchte daraus hervor und deutete auf ihn, begleitet von einer donnernden, gebieterischen Stimme: TOM MERCER, RIESENVERSAGER . Aber er hatte sich ja bereits sagen lassen müssen – ebenfalls heute früh! –, dass auch dieser Ansatz wieder nur eine Falle war: »Tom, Schatz, es ist ungeheuer narzisstisch zu glauben, die ganze Welt wäre gegen dich.« Als er die Stimme seiner Mutter am Telefon hörte, war er beeindruckt davon, wie ruhig und liebevoll sie klang und wie zufrieden mit ihrer Analyse seiner Persönlichkeit. Dem Himmel sei Dank für seine Mutter! Sie nahm ihn nicht ernst und lachte, wenn er einen Witz machte, auch wenn sie ihn mal wieder nicht verstanden hatte, wie fast immer. Seine Eltern waren Landmenschen und im Großelternalter, weil es für beide die zweite Ehe war. Sie hatten keinerlei Vorstellung von seinem Alltag, sie schrieben keine Mails, hörten zum ersten Mal von der Sussex University, als er dort zu studieren anfing, und hatten keinerlei Erfahrung mit »Nachbarn von unten«, mit »Nachtbussen«, den Gegebenheiten eines »unbezahlten Praktikums« (»Geh doch einfach mal hin und stell ihnen ein paar Ideen vor, Tom, zeig ihnen, was du wert bist. Charlie wird dir ja wohl zuhören. Wir waren schließlich sieben Jahre lang Kollegen!«) oder den Klubs, wo man seine Kleidung – und auch noch manch anderes – an der Tür ablegte. Soweit er das beurteilen konnte, führten sie auch kein Doppelleben. Sie tranken nur zum Abendessen, nie bis zum Exzess. Während Toms Vater ihn aufsässig und unbegreiflich fand, war seine Mutter etwas nachsichtiger mit ihm und zog zumindest die Möglichkeit in Betracht, dass er tatsächlich an einer für das einundzwanzigste Jahrhundert typischen Form intellektuellen Überdrusses litt, der es ihm unmöglich machte, die glücklichen Umstände, in die er hineingeboren war, zu nutzen. Aber es gab Grenzen. Man durfte sich beispielsweise nicht einreden, Brixton sei ein auch nur irgendwie akzeptabler Wohnort. »Aber wenn es dir nicht gut geht, Tom, Baresfield 20 steht mindestens bis Juli leer. Ich weiß wirklich nicht, was du gegen Mayfair hast. Da könntest du wenigstens den Wagen parken, ohne Angst zu haben, dass er bei irgendwelchen Krawallen komplett ausbrennt.« »Die Krawalle sind zwanzig Jahre her!« »Tom, ich verweise nur auf das alte Märchen: Schuster und Leisten.« »Das ist doch gar kein Märchen!« »Im Ernst, ich weiß wirklich nicht, wieso du nicht gleich dort eingezogen bist.« Weil man sich hin und wieder der Illusion hingeben möchte, ein eigenes Leben zu führen und auf
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