London NW: Roman (German Edition)
Luft. »Wie alt?«
Felix konnte nicht anders, er musste lächeln. »Vierundzwanzig wird sie dann, glaub ich. Im November. Aber darum geht’s gar nicht.«
»Und immer noch kein Wodka.«
Felix seufzte und ging zur Luke zurück.
»Ich werde an den anderen denken«, hörte er Annie hinter sich rufen, als er nach unten kletterte. »Ich werde ihn bemitleiden! Es ist so wichtig, dass wir Mitleid miteinander haben!«
Marlon. Das war an einem Sonntag im Februar endgültig vorbei gewesen, während Felix bei Grace auf der Treppe hockte, sich bibbernd eine Zigarette drehte und durch die Tüllgardinen spähte. Der Mann beobachtete den anderen Mann, wie er durch die Wohnung stapfte, ein Fahrradschloss, ein paar hässliche Klamotten, eine Dockingstation für den iPod, einen Haarschneider einsammelte. Er war massig, Marlon, nicht direkt fett, aber schwabbelig und unbeholfen. Er verbrachte eine Ewigkeit im Bad und kam mit diversen Haargeldosen und Cremetuben wieder heraus, von denen mindestens eine Felix gehörte – aber Felix hatte die Frau errungen und konnte auch ohne sein Dax-Wachs leben. Nachdem Marlon seine Sachen zusammengesucht hatte, sah Felix zu, wie er Grace’ Hand in die seine nahm, als wollte er einen religiösen Ritus vollziehen, und sagte: »Ich bin dankbar für die Zeit, die wir zusammen hatten.« Armer Marlon. Er hatte wirklich nicht die leiseste Ahnung. Sogar danach tauchte er noch ein paarmal auf, mit Soca-Tapes, handgeschriebenen Briefen und Tränen. Nichts davon brachte ihn weiter. Letzten Endes war all das, was Grace behauptete, an Marlon zu mögen – dass er eben kein »Checker« war, dass er nett war und schüchtern und sich nicht für Geld interessierte –, ein Grund, ihn zu verlassen. Weil er so nett war, dauerte es eine Weile, bis die Botschaft ankam. Aber schließlich hatte er sich samt seiner »Ich bin Krankenpfleger Hip-Hop ist mir zu anti ich kann Ziegenfleisch in Currysoße kochen und will nach Nigeria auswandern«-Nummer zurück nach Südlondon verzogen, wo er nach Felix’ Ansicht auch hingehörte.
»Kühlschrank«, sagte Felix jetzt zu sich und öffnete ihn: zwei vorratsgroße Colaflaschen, drei Zitronen und eine Dose Makrelen, dann fiel es ihm wieder ein, und er öffnete stattdessen den Gefrierschrank. Er nahm die Wodkaflasche heraus. Kehrte zum Kühlschrank zurück, nahm die am wenigsten weiße Zitrone heraus. Sah sich um. Die Küche war ein kleines Kabuff mit einer angestoßenen Keramikspüle, ohne jeden Stauraum und ohne Mülleimer. Die Spüle stand voll; kein sauberes Glas vorhanden. Vor dem halb offenen Fenster flatterte ein Vorhangfetzen. Eine Kolonne Ameisen marschierte von der Spüle zum Fenster und wieder zurück, sie transportierten Krümel auf dem Rücken und strahlten eine Zuversicht aus, die nahelegte, dass sie in diesem Leben hier nicht mehr mit Leitungswasser rechneten. Felix nahm einen Becher. Mit einem stumpfen Messer säbelte er an der Zitrone herum. Goss Wodka ein. Schraubte den Deckel wieder zu, legte die Flasche zurück in den Gefrierschrank und stellte sich vor, wie er diesen Moment des Maßhaltens am Dienstag um sieben Uhr abends einer Gruppe Weggefährten schildern würde, die das Heroische daran zu schätzen wüssten.
Oben auf dem Dach hatte Annie die Stellung gewechselt – sie saß jetzt mit gekreuzten Beinen und geschlossenen Augen im Yogasitz – und trug auf einmal einen grünen Bikini. Er stellte den Becher vor sie hin, und sie nickte wie eine Göttin, die die Opfergabe entgegennimmt.
»Wo kommt denn der Bikini her?«
»Fragen über Fragen.«
Ohne die Augen zu öffnen, deutete sie auf die Familie auf der Terrasse gegenüber. »Die können jetzt nur noch die Scherben aufsammeln. Das Mittagessen ist im Eimer, der Sancerre versiegt, aber irgendwie, irgendwie werden auch sie einen Weg finden, weiterzuleben.«
»Annie –«
»Und sonst? Ich weiß gar nicht mehr, was du so treibst. Hat sich irgendwas in Richtung Film getan? Wie geht’s deinem Bruder?«
»Ich bin da schon ewig weg. Jetzt lern ich in dieser Autowerkstatt, hab ich dir doch erzählt.«
»Alte Autos sind ein hübsches Hobby.«
»Das ist kein Hobby – das ist meine Arbeit.«
»Felix, du bist so ein talentierter Filmemacher.«
»Ach, hör mir auf, Mann! Was hab ich denn da gemacht? Kaffee geholt, Koks beschafft. Das hab ich gemacht. Sonst nichts. Die hätten mich auch nichts anderes machen lassen, das kann ich dir flüstern. Warum redest du dauernd so ’n unrealistischen Scheiß?«
»Weil
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